In der Schweiz wurde am Mittwoch der Bundesrat gewählt – und keine Sau ausserhalb des Landes hat sich dafür interessiert. Schon bei der Parlamentswahl im Oktober hielt sich die Beachtung in engen Grenzen. Wenn die Briten heute ein neues Unterhaus und damit auch die Regierung wählen, schaut die ganze Welt gebannt auf das Königreich.
Es ist bereits die dritte Wahl in weniger als fünf Jahren, und das in einem Land, dessen System auf Stabilität und klare Verhältnisse ausgerichtet ist. Gründe dafür gibt es mehrere, aber einer überlagert alle anderen: der Volksentscheid vom Juni 2016 für den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Der Brexit hat das Land seither in Atem gehalten und tief gespalten.
Wird die Wahl vom Donnerstag für klare Verhältnisse sorgen? Die jüngste Umfrage des Instituts YouGov, das alle 650 Wahlkreise einzeln auswertet, deutet auf einen Sieg der Konservativen hin, auch wenn ihr Vorsprung geschrumpft ist. Sie können laut YouGov mit einer Mehrheit von 28 Sitzen rechnen. Aber auch ein erneutes Unterhaus ohne Mehrheit sei «absolut nicht ausgeschlossen».
Der Wahlkampf von Premierminister Boris Johnson lässt sich auf drei Wörter reduzieren: Get Brexit Done. Er wiederholt sie bei jeder Gelegenheit. Im Fernsehduell mit Labour-Chef Jeremy Corbyn am letzten Freitag baute er sie gefühlt in jeden zweiten Satz ein. Er zielt damit auf jene klare Mehrheit der Briten, die genug vom Brexit haben und das Thema endlich abhaken wollen.
Daneben verspricht der 55-jährige Blondschopf ein Ende der knallharten Sparpolitik von Vorvorgänger David Cameron. Er will Milliarden in den nationalen Gesundheitsdienst NHS und andere öffentliche Einrichtungen – insbesondere die Polizei – investieren und verspricht gleichzeitig tiefere Steuern. Johnsons Programm ist Populismus in Reinkultur.
Nach seinem Beinahe-Wahlsieg im Juni 2017 war Jeremy Corbyn ein Politstar. Allerdings profitierte er auch vom miserablen Wahlkampf der damaligen Premierministerin Theresa May. Heute wirkt der 70-Jährige ziemlich verbraucht. Das liegt auch und nicht zuletzt am Brexit. Der ewige EU-Skeptiker konnte sich bei diesem Thema nie zu einer klaren Haltung durchringen.
Nun will Corbyn im Falle eines Wahlsiegs erneut mit der EU verhandeln. Er verspricht eine enge Anbindung, etwa durch Verbleib in der Zollunion. Das Ergebnis will er dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Daneben plant der Altlinke ebenfalls Milliardenausgaben. Er will Privatisierungen aus der Thatcher-Ära etwa von Eisenbahn und Wasserversorgung rückgängig machen.
Bei der Labour-Basis geniesst Corbyn noch immer viele Sympathien. Die breite Bevölkerung aber misstraut ihm mehrheitlich. Dazu tragen antisemitische Auswüchse bei, die unter seiner Führung stark zugenommen haben. Jüdische Labour-Mitglieder haben die Partei deswegen im Zorn verlassen. Eine klare Mehrheit der britischen Juden hält Corbyn selbst für antisemitisch.
Die ewige Nummer 3 der britischen Politik stieg mit grossen Hoffnungen in den Wahlkampf. Ihre junge Vorsitzende Jo Swinson sah sich vollmundig als künftige Premierministerin. Doch sie machte zwei Fehler: Swinson schloss eine Koalition mit Johnson und Corbyn kategorisch aus. Vor allem aber will die EU-Befürworterin den Brexit stoppen, ohne zweite Abstimmung.
Dies wurde als undemokratisch kritisiert. Ausserdem leiden die Liberaldemokraten unter einem Problem, das sie seit ewigen Zeiten handicapiert. Das knallharte britische Majorzsystem nötigt die Stimmberechtigten regelrecht zu taktischem Wahlverhalten. Mitte-Wähler, die ideologisch eigentlich den LibDems nahe stehen, entscheiden sich letztlich doch für Tories oder Labour.
Bei der Europawahl im Mai war die Brexit-Partei die grosse Siegerin. Nun ist sie in den Umfragen kollabiert, sie dürfte im Unterhaus keinen einzigen Sitz erhalten. Dazu trug neben Boris Johnsons Brexit-Wahlkampf auch das selbstgefällige und widersprüchliche Verhalten ihres Vorsitzenden Nigel Farage bei. Trotzdem könnte seine Partei den Tories wichtige Stimmen kosten.
Die Schottische Nationalpartei (SNP) wiederum gehörte bei den Wahlen 2017 zu den Verlierern, sie büsste einen Drittel ihrer Sitze ein. Diese dürfte sie nun mehrheitlich zurückgewinnen. Dies bedeutet Rückenwind für die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon. Die dezidierte Proeuropäerin will möglichst rasch ein zweites Unabhängigkeitsreferendum durchführen.
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— Allie Hodgkins-Brown (@AllieHBNews) December 11, 2019
Falls die Konservativen gewinnen, will Premierminister Johnson seinen mit der EU nachverhandelten Austrittsvertrag noch vor Weihnachten durchs Parlament bringen und den Brexit wie vorgesehen am 31. Januar 2020 vollziehen. Allerdings würden die Briten vorerst nur politisch aus der EU austreten. Wirtschaftlich bleiben sie sicher bis Ende 2020 Teil der Union.
So lange läuft die vereinbarte Übergangsfrist, in der die künftigen Beziehungen definitiv ausgehandelt werden. Boris Johnson schwebt eine Art erweitertes Freihandelsabkommen vor. Bei einem Scheitern droht im Extremfall erneut ein «harter» Brexit. Johnson will die Übergangsfrist keinesfalls verlängern, doch schon beim Austrittsdatum hat er sich als «flexibel» erwiesen.
Ob ein Tory-Wahlsieg wirklich für klare Verhältnisse beim Brexit sorgen wird, was rechte Revolverblätter wie die «Sun» herausposaunen, ist deshalb keinesfalls sicher. Vielmehr droht in der Tat eine Brexiternity, eine Art Endlos-Austritt, den der frühere Labour-Abgeordnete und Europa-Staatssekretär Denis MacShane postuliert – und eine Fortsetzung der Agonie im Königreich.