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Neuseeland wählt - Jacinda Ardern und ihr «Fünf-Millionen-Team»

epa08716582 New Zealand Prime Minister Jacinda Ardern after casting her vote on the first day of advance voting during the New Zealand general election, in Auckland, New Zealand, 03 October 2020. The  ...
Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern stellt sich zur Wiederwahl.Bild: keystone

Neuseeland wählt – die Anti-Trump und ihr «Fünf-Millionen-Team»

Die Premierministerin Neuseelands wurde durch einen dunkeln Tag des Landes im Jahr 2019 weltweit bekannt. Nun steht Jacinda Ardern, die auch «Anti-Trump» genannt wird, zur Wiederwahl.
15.10.2020, 16:0302.11.2020, 10:54
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Bis zu jenem Tag im März 2019 hatte Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern ein fast perfektes Image: Eine beruflich und privat glückliche und erfolgreiche Frau von nicht einmal 40 Jahren, der so gut wie alles gelingt.

Neue Vorsitzende der Labour-Partei im Sommer 2017, gleich darauf ein völlig überraschender Wahlsieg aus der Opposition heraus. Kurz darauf bringt sie auch noch als erste amtierende Regierungschefin seit Jahrzehnten ein Kind zur Welt. International war ihr Name aber kaum bekannt – schliesslich liegt die von ihr regierte Insel für die meisten Menschen ziemlich weit weg.

Dann schlägt ein Massenmörder zu. Ein Rechtsextremist aus Australien erschiesst in zwei Moscheen in der Stadt Christchurch 51 Muslime. Die Bluttat entsetzt die Welt. Die Regierungschefin hat in den Folgetagen dunkle Augenringe, aber sie zeigt vorbildlich, was Mitgefühl, Präsenz und Stärke in Krisenzeiten bedeuten. Sie umarmt Muslime, spricht mit Hinterbliebenen, hält einfühlsame Reden, trifft den richtigen Ton. Was so vielen Politikern in der Welt zu fehlen scheint, sie hat es. Das findet Lob und macht die junge Frau mit einem Schlag berühmt.

Parallel dazu bringt sie auch eine Verschärfung der Waffengesetze auf den Weg. Halbautomatische Waffen, so wie sie der Mörder benutzt hatte, sind in Neuseeland nun verboten.

FILE - In this Sept. 24, 2020, file photo, New Zealand Prime Minister Jacinda Ardern is embraced as she arrives at the Al Noor mosque in Christchurch, New Zealand. Opinion polls indicate Ardern is on  ...
Die Premierministerin hat gut auf das Christchurch-Attentat reagiert.Bild: keystone

Nur ein Jahr später dann Corona. Die Regierung reagiert schnell, ordnet eine der strengsten Ausgangssperren der Welt an und ist erfolgreich: Bislang ist Neuseeland extrem glimpflich durch die Krise gekommen, konnte kürzlich gar das Virus zum zweiten Mal für besiegt erklären. Ardern kam die gute Nachricht gerade recht: Am Samstag gehen die Neuseeländer zur Wahl. Die 40-Jährige, die auch als «Anti-Trump» bezeichnet wird, hofft auf eine zweite Amtszeit.

Die Corona-Bilanz ist tatsächlich beachtlich: Nur rund zwei Dutzend Menschen sind in Australiens Nachbarland in Verbindung mit Covid-19 gestorben. Im Juni erklärte sich das Land zum ersten Mal Corona-frei und kehrte zu einer beneidenswerten Normalität zurück. Ein zweiter Ausbruch in Auckland ist nun auch unter Kontrolle.

Statt auf harte Worte setzt Ardern auf die Solidarität und Kollaboration ihres «Fünf-Millionen-Teams», wie sie das Volk gern nennt. «Seid stark, seid freundlich», lautete ihr Schlagwort im Kampf gegen das Virus. Aber nicht alle fühlen sich als Teil des Teams. Kritiker werfen ihr vor, nicht genug gegen die weit verbreitete Kinderarmut unternommen zu haben. Laut Unicef gibt es in kaum einem anderen Industriestaat so viele Selbstmorde unter Jugendlichen wie in Neuseeland. Besonders von Armut betroffen sind nach wie vor die Maori, die Ureinwohner von Aotearoa, wie sie das Land nennen.

epa08193979 New Zealand Prime Minister Jacinda Ardern (R) receives rowing instructions prior to a paddle with a Waka crew prior to Waitangi Day in Waitangi, New Zealand, 05 February 2020. Waitangi Day ...
Andern auf Besuch bei den Maori.Bild: EPA AAP

Dass Ardern überhaupt Premierministerin wurde, war dabei eher ein Zufall. Denn Labour war bei der Wahl 2017 trotz klarer Gewinne nur zweitstärkste Kraft geworden. Die konservative National-Partei, die zuvor drei Legislaturperioden lang an der Macht war, hatte aber ebenfalls nicht genug Stimmen, um allein zu regieren. Zünglein an der Waage wurde wegen einer Eigenheit des Wahlsystems die populistische Kleinpartei «New Zealand First», die ihren Koalitionspartner selbst wählen durfte – und sich überraschend für Labour entschied. «Wir mussten uns zwischen einem Status quo oder einem Wandel entscheiden», erklärte Parteichef Winston Peters. Dritter im Bunde sind die Grünen.

Seither hat Ardern viele ihrer Wahlversprechen eingelöst, andere nicht. «Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Verschlechterung der sozialen Lage ist überhaupt kein Erfolg. Es ist ein Misserfolg», räumte sie im Wahlkampf ein. Auch im Klimaschutz will sie Vorreiterin sein: Bis 2035 soll Neuseeland seinen Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien gewinnen, schrieb sie 2018 in einem Gastbeitrag im «Tagesspiegel». Kurz: Sie hat noch viel vor. Ihr Leitsatz im Wahlkampf: «There is still more to do.» (Es gibt noch mehr zu tun.)

Unmut regt sich aber auch, weil das Gesicht Arderns so häufig Magazincover ziert. Ende 2019 kam ein 66-jähriger Maurer aus der Region Canterbury in die Schlagzeilen, als er eine Kampagne gegen sie startete. «Wir wollen einen Premierminister, kein Model», moserte er.

Zudem: Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind dramatisch. Das will Arderns konservative Widersacherin Judith Collins nutzen. Die 61-Jährige, die schon viele Ministerposten besetzt hat, versucht mit ihrer langjährigen politischen Erfahrung zu punkten. «Wir nähern uns der tiefsten Rezession seit Menschengedenken. Das Finanzministerium hat prognostiziert, dass 100'000 weitere Neuseeländer ihre Arbeit verlieren werden», warnte Collins im Wahlkampf und präsentierte sich als Krisenmanagerin: «Wir brauchen eine Regierung mit nachgewiesener wirtschaftlicher Kompetenz und Glaubwürdigkeit, mit einem Plan für die Erholung nach Covid und der Fähigkeit, diesen Plan umzusetzen.»

epa08746303 New Zealand opposition leader Judith Collins speaks to the media while campaigning in Auckland, New Zealand, 15 October 2020. The New Zealand general election will be held on 17 October 20 ...
Die Gegnerin: Judith Collins.Bild: keystone

Das Nachrichtenportal «Stuff» sprach von einem «historischen Wahlkampf». Das Ergebnis werde bestimmen, «wie wir aus dem grössten wirtschaftlichen Schock seit Jahrzehnten herauskommen.» Sicher scheint nur: Es wird eine Frau sein, die Neuseeland durch die schwere Zeit nach der Pandemie manövriert. (cki/cki/sda/dpa)

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Attacke auf zwei Moscheen in Neuseeland
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Attacke auf zwei Moscheen in Neuseeland
Bei einem Terrorangriff auf zwei Moscheen in Christchurch hat es am Freitag, 15. März 2019, mindestens 50 Tote gegeben. Mit einer Schnellfeuerwaffe schoss ein Tatverdächtiger auf Muslime.
quelle: epa/snpa / martin hunter
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Coronavirus: Die Welt staunt über Neuseeland
Video: srf
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27 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mstuedel
15.10.2020 17:12registriert Februar 2019
Australien hat auch bloss Wasser ringsherum und es im Gegensatz zu Neuseeland nicht geschafft, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen.
Arden hat es wieder geschafft, die Bevölkerung zu überzeugen und auf Kurs zu bringen. Das war auch schon nach den Terroranschlägen so.
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raues Endoplasmatisches Retikulum
15.10.2020 16:58registriert Juli 2017
Anti-Trump ist lustig.
Zu ihren Politischen Positionen gehören (Quelle Wiki englisch): "a lower rate of immigration, suggesting a drop of around 20,000–30,000." (Flüchtlinge sollen mehr kommen dürfen.
Ihr Koalitionspartner, zusammen mit den Grünen heisst "New Zealand First", einer "nationalist and populist political party".
So ganz Anti-Trump sieht anders aus.
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