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Das Jahrzehnt des IS-Terrors: Wie die Attentate Europa traumatisierten

Das Jahrzehnt des IS-Terrors: Wie die Attentate Europa traumatisierten

Scheinbar aus dem Nichts wurde die europäische Öffentlichkeit 2015 bis 2017 von einer Welle von Anschlägen überrascht. Inzwischen ist die Attentatsquote gesunken. Der Rückblick zeigt, wie das Terrorjahrzehnt die Politik verändert hat.
06.01.2020, 05:38
Felix E. Müller / ch media
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A bullet hole is pictured on a shopwindow of the Champs Elysees boulevard in Paris, Friday, April 21, 2017. France began picking itself up Friday from another deadly shooting claimed by the Islamic St ...
Bild: AP

Ein Einschussloch nach den Anschlägen auf der Champs-Elysée in Paris.

Niemand hätte sagen können, man sei nicht gewarnt worden: Im Jahr 2004 brachten in Madrid islamistische Terroristen Sprengsätze in verschiedenen Vorortszügen zur Explosion und töteten 191 Menschen. Im folgenden Jahr war der öffentliche Verkehr in London Ziel eines Attentats, das 56 Menschenleben kostete. Behörden, Polizei, Sicherheitskräfte und die Politik wussten also um die Gefahr, die von diesen Extremisten ausging, zumal es nachher immer wieder zu kleineren Attentaten oder Versuchen kam.

Dennoch kam, scheinbar aus dem Nichts, eine Welle von Grossattentaten, von der die Sicherheitskräfte völlig überrascht schienen. Sie begann mit dem Überfall auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris im Januar. Nur kurze Zeit später folgten ebenfalls in Paris der Anschlag auf das Konzertlokal Bataclan, im folgenden Jahr Attacken in Brüssel, Nizza oder Berlin und 2017 der Anschlag auf ein Konzert der Sängerin Ariana Grande in Manchester.

Chronologie: Die Anschläge

Charlie Hebdo

Am 7. Januar 2015 drangen zwei Attentäter in Paris in die Redaktion der Satirezeitschrift ein und erschossen 12 Personen.

Paris

Am 13. November 2015 schlugen Terroristen an acht Orten zu, unter anderem im Stade de France und im Lokal Bataclan. 130 Leute wurden getötet, 683 verletzt.

Brüssel

Am 22. März 2016 sprengten sich drei Terroristen am Flughafen und in einem U-Bahnhof in die Luft. 32 Menschen wurden getötet, 300 verletzt.

Nizza

Am 14. Juli 2016 fuhr ein Attentäter auf der Promenade des Anglais mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge. 85 Leute wurden getötet, 400 verletzt.

Berlin

Am 19. Dezember 2016 steuerte ein Terrorist einen Sattelschlepper in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt. Elf Leute wurden getötet, 55 verletzt.

Manchester

Am 22. Mai 2017 erschoss ein Attentäter nach dem Konzert von Ariana Grande 22 Besucher. Die Mehrheit war jünger als 16. 800 wurden verletzt.

Diese Serie wirkte traumatisierend auf die europäische Öffentlichkeit. Insbesondere Bataclan und Brüssel erweckten den Eindruck, ganze Grossstädte seien schutzlos dem mörderischen Treiben der Terroristen ausgesetzt, weil die Polizei die Sicherheit nicht mehr garantieren könne. Doch danach sanken die Zahlen rapide: 2018 verzeichnen die Statistiken nur noch gut ein halbes Dutzend Attentate mit insgesamt 14 und in diesem Jahr zwei Vorfälle mit 6 Toten.

Aufstieg und Niedergang einer Bewegung

Diese Kurve läuft parallel zum Aufstieg und Niedergang des IS, der fundamentalistischen islamistischen Bewegung, die eng mit dem Bürgerkrieg in Syrien verknüpft ist. 2013 spaltete sich von der damals führenden Terrororganisation Al-Kaida in Syrien der IS ab. Dieser verfolgte das Ziel, einen territorialen Gottesstaat zu etablieren, in dem nur der Koran und die Scharia gälten.

Eine Zeit lang regierte der IS tatsächlich über ein Gebiet der Grösse Österreichs. Wer Attentate plante, fand hier einen geschützten Raum vor. Weil zudem das Kalifat aus Europa Tausende von Sympathisanten anzog, verfügten die Drahtzieher der Anschläge über vielfältige Kontakte mitten in die radikalen Zirkel der muslimischen Glaubensgemeinschaften. Dies erleichterte die Rekrutierung von Tätern.

Was trieb diese an? Die Islamisten stellen die radikalste Ausprägung einer Erneuerungsbewegung in den muslimischen Ländern dar. In vielerlei Hinsicht konnten diese als «Abgehängte» der globalen Entwicklung gelten und wurden vom Westen auch so eingeschätzt: wirtschaftlich mit Ausnahme des Öls unbedeutend, ohne Beiträge zur internationalen Spitzenforschung, militärisch und politisch schwach. Besserung sei, so predigten die Begründer des Islamismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nur mit einer Rückbesinnung auf den Glauben zu erreichen. Verbunden mit der Erhebung des Koran zum zentralen Dokument im Denken und Handeln der Islamisten war die Ablehnung der westlichen Werte.

Gleichberechtigung der Frauen, sexuelle Liberalität, Demokratie und Meinungsfreiheit: All das musste bekämpft werden. Als Waffe bot sich der Terrorismus an. Er war kostengünstig und effizient, weil mit kleinem Aufwand eine enorme Wirkung erzielt werden konnte. Darum trug der IS diesen Kampf mitten nach Europa, ins Zentrum der europäischen Grossstädte.

Doch auf den syrischen Schlachtfeldern begannen sich die Machtverhältnisse zu ändern. Der IS geriet in die Defensive und verlor im Frühling 2019 seine letzten Territorien und damit auch sein Logistikzentrum für Anschlagsplanung. Der rasche Niedergang der Attentatsquote findet hier die eine Erklärung. Die andere ist in der Tatsache zu suchen, dass die Sicherheitskräfte in Europa gewaltig aufgerüstet haben. Entsprechend stiegen die Ausgaben für den Kampf gegen den Terror in den europäischen Staaten stark an.

Die Folge von Terror: Liberale Überzeugungen verschwinden

Die Schweiz entzog sich diesem Trend nicht: So beschloss der Bundesrat Ende 2017, 86 zusätzliche Stellen zur Terrorismusbekämpfung zu schaffen. Damit scheint es gelungen zu sein, die Möglichkeit von komplexen Grossattentaten, die einen beträchtlichen Organisationsaufwand benötigen, zu unterbinden. Wenn es heute noch zu Anschlägen kommt, werden sie von Einzeltätern begangen, die mit primitiven Mitteln arbeiten – Messern etwa oder Lastwagen. Deswegen ist auch die durchschnittliche Opferzahl pro Vorfall gesunken.

Am Ende dieses Terrorjahrzehnts lässt sich sagen, dass sich die IS-Extremisten in der Defensive befinden. Dennoch haben diese die westlichen Gesellschaften tief greifend beeinflusst, sind sie doch mitverantwortlich dafür, dass sich liberale Überzeugungen auf breiter Front im Rückzug befinden. Nicht nur der Ausbau der Überwachungsapparate und der Ausbau der Nachrichtendienste, auch die Abwendung vom Multikulturalismus und die Akzeptanz autoritärer Führungsfiguren weisen in diese Richtung. Schliesslich sind die radikalen Islamisten massgeblich für den Aufschwung eines weissen Extremismus verantwortlich, der den Kampf gegen den Islam propagiert. Im Namen dieser Ideologie sind in letzter Zeit mehr Attentate begangen worden als vom IS.

Die Islamisten bleiben nach wie vor eine latente Gefahr. Die rechtsextremistische ist neu dazugekommen. (aargauerzeitung.ch)

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