Wenn Blicke wirklich töten könnten, wäre Laurent Sourisseau, alias Riss, wohl nicht mehr am Leben. «Wir schauten uns in die Augen», beschreibt er die Szene, als die Gebrüder Kouachi am 7. Januar 2015 mit ihren Kalaschnikows in die Redaktionssitzung platzten. «Eine Sekunde lang, vielleicht zwei.» Der schwarz gekleidete Attentäter schien überrascht, in dem kleinen Raum so viele Leute vorzufinden. «Sein Staunen wurde aber gleich von seiner Aufgabe weggewischt: Er sollte töten.»
Riss tauchte reflexartig ab, «wie ein Kind, das sich fallen lässt». Unter dem Bürotisch vergrub er den Kopf in den Armen. Ein Schuss traf ihn in die Schulter. Aber Riss überlebte – anders als zwölf Freunde, darunter fünf Karikaturisten, ein Polizist, eine Chronistin, ein Korrektor: Sie starben in der Attacke von «einer Minute und 49 Sekunden», wie der Titel von Riss’ Werk lautet.
Heute setzt sich der Zeichner mit übereinandergelegten Händen an den Tisch, verbergend, dass er den rechten Arm nicht mehr heben kann. Noch am Nachmittag, als er aus dem Albtraum aufwachte, war er überzeugt, dass ihn die Terroristen wegen seiner Mohammed-Karikaturen im Spital aufspüren würden, um ihr Werk zu vollenden. Der Frühling danach war kein Fest. Gestützt von einer Massendemo und dem Solidaritätsslogan «Je suis Charlie» machte das Magazin weiter. An der wöchentlichen, von der Polizei schwer bewachten Redaktionssitzung waren sie aber gelegentlich nur noch zu zweit. «Zwei lebend Begrabene.»
Aber eben: lebend. «Man versucht, sich nicht überwältigen zu lassen, kein Gefangener dieses Ereignisses zu sein», sagt der damalige Zeichner und heutige Chefredaktor von «Charlie». Das Gleiche gilt für das Blatt mit einer aktuellen Auflage von 55000 (20000 mehr als vor dem Attentat): So wie Riss gerne wieder einmal ohne Polizeibegleiter ausgehen würde, wäre das Satiremagazin gerne wieder ein ganz normales Satiremagazin. Natürlich schön provokativ, ja unflätig: Mit der grauslichen Zeichnung des ertrunkenen Migrantenbuben Aylan trat Riss noch im Jahr des Attentates eine neue Polemik los.
Mohammed lässt er aber links liegen. Nicht aus Feigheit: Der 53-Jährige macht keine Konzessionen; aber er will loskommen vom Opferstatus und vom Image eines Anti-Islamisten-Magazins. Lieber verteidigt er einen bekannten TV-Mann, der wegen eines sexistischen Witzes entlassen worden war. «Bürger werden wie kleine Kinder bestraft, nur weil sie Schimpfwörter brauchen», ärgert sich Riss.
Ohne verbale Zurückhaltung poltert er gegen jene Linken, die ihm Islamfeindlichkeit unterstellen, wenn nicht Rassismus und Nähe zu Rechtsextremisten. «Kollabos» schimpft er sie – Komplizen von Terroristen. Riss scheut sich nicht, den einflussreichen Chefredaktor des linken Online-Magazins Mediapart, Edwy Plenel, anzugreifen, weil dieser den umstrittenen Prediger Tarik Ramadan in Schutz genommen habe.
Er selber, der Überlebende, kennt keine Nachsicht mit Islamisten. Riss zeichnet Mohammed-Karikaturen nur noch «wenn nötig»; umso mehr drischt er auf die angeblich naiven Vertreter einer wohlmeinenden Laizität ein – all jene, die die Augen verschliessen vor den Vorgängen in den Banlieus. Also jener Viertel, wo nach dem 7. Januar 2015 niemand «je suis Charlie» skandiert hatte.
Gegen diesen Riss durch die Gesellschaft weiss Sourrisseau auch nicht weiter. Aber er sieht, dass sich Messerattacken geistig gestörter Solo-Dschihadisten häufen – am Freitag in Villejuif, am Sonntag in Metz. Steigt vor dem fünften Jahrestag die Gewalt des Charlie-Massakers aus den Untergründen der französischen Gesellschaft hoch? Dieses Massaker hatte zwar weniger Opfer gefordert als die Anschläge auf den Pariser Konzertsaal Bataclan von November 2015 (130 Tote) oder die Strandpromenade in Nizza (86 Tote). Aber der Fall Charlie war symbolischer. «Die Leute wurden sich bewusst, dass ihre Gesellschaft bedroht ist», sagt Riss. Soldaten mit vorgehängtem Gewehr gehören seither zum französischen Alltag.
Im Mai beginnt in Paris ein zweimonatiger Prozess gegen die Attentäter der «Charlie»-Redaktion und eines zwei Tage später attackierten jüdischen Supermarktes. Vierzehn Komplizen sitzen auf der Anklagebank, doch die Hauptfiguren sind abwesend, weil nicht mehr am Leben. Riss schweigt sich über seine Teilnahme an den Verhandlungen aus, wohl aus Sicherheitsgründen. Der «Charlie»-Chef sagt nur, er wäre schon froh, wenn er wieder einmal die Pariser Metro benützen könnte. (aargauerzeitung.ch)