Der französische Landwirtschaftsminister Didier Guillaume hatte eine Schreckensvision: Was, wenn der grösste Agrarproduzent der EU seine Früchte und Gemüse nicht mehr einbringen kann, weil die marokkanischen und polnischen Saisonniers nicht mehr über die geschlossenen Grenzen kommen?
Doch während viele europäischen Länder Sondergenehmigungen für Saisonniers aus Osteuropa erteilen, wählte Guillaume einen anderen Weg: Er richtete einen verzweifelten Appell an die Nation. Die französische Landwirtschaft, so erklärte er über Youtube, brauche dringend 200 000 Arbeitskräfte, um Spargeln und Erdbeeren zu ernten. «Ich rufe eine Armee aus Frauen und Männern zusammen», deklamierte er am 24. März martialisch. Dann lancierte er eine Webseite mit dem kuriosen Namen «des bras pour ton assiette» - Armeskraft für deinen Teller.
Guillaume staunte wohl am meisten: Bis heute haben sich 210’000 Helfer gemeldet - mehr als benötigt. Einer ist Louis, 27, Innenarchitekt in Paris. An diesem Donnerstag kniet er in einer Kiwi-Plantage in Feucherolles am Boden und reisst Unkraut aus. Dazwischen erzählt der Mann mit dem modischen Kurzbart, er sei dem «Appell der 200’000» gefolgt, um seiner 40-Quadratmeterwohnung in Paris zu entkommen, aber auch weil er es wichtig finde, zur «landwirtschaftlichen Autonomie» seines Landes beizutragen.
«Und die Zusatzeinkünfte können wir auch gut gebrauchen», ergänzt seine Freundin Irina, eine 28-jährige Pariserin, die Äste an einem orangeroten Faden hochbindet. Die Arbeit zu einem Stundenlohn von 12 Euro geht Ungeübten ganz schön in die Knochen. Dafür sei die An- und Rückfahrt über die staulosen Strassen ein Vergnügen, schmunzelt Irina.
«Gegenüber dem Dauerstress in Paris ist die Arbeit fast schon erholend», findet die Gemeindeangestellte. «Hier wurde mir auch bewusst, wie wichtig es wäre, unsere Gewohnheiten zu ändern und lokal zu produzieren - wegen des Virus, aber auch wegen der Klimaerwärmung. Ich, die ich immer dachte, alle Kiwis kämen aus Neuseeland, bin froh, dass ich bei der Produktion in der Nähe meines Wohnortes mithelfen zu können.»
Dass sich in Frankreich spontan über 200'000 Erntehelfer zum Felddienst eingeschrieben haben, erklärt sich nicht nur durch den Zusatzverdienst und die amtlich bewilligte Bewegungsfreiheit. Einige Neo-Erntehelfer haben in der Zeitung Le Monde ihre Motive dargelegt. Eine Buchhändlerin aus dem Grossraum Paris will sich in dieser toten Zeit «nützlich machen», ein Personaldirektor aus Marseille auf eine Tätigkeit für das Bauernnetzwerk «Terre des liens» umsatteln. Eine Kulturtechnikerin aus Paris durchforstet Kleinanzeigen für eine Schäferei in den Bergen.
Le Monde ortet dahinter einen neuen «Traum vom Landleben» und die coronageschürte «Erkenntnis, dass die Zukunft eher auf dem Land als in den Städten liegt». Das muss nicht heissen, dass die Franzosen 250 Jahre nach Jean-Jacques Rousseau «zurück zur Natur» wollen.
Aber die Bewegung ist unübersehbar: Mehr als eine Million Pariserinnen und Pariser haben der französischen Metropole und ihre Promiskuität - weder in New York noch Neu Dehli wohnt man enger - den Rücken gekehrt. Viele entdecken wieder das Leben im Familienhaus, das sie vor Jahren einmal Richtung Grossstadt verlassen hatten.
Andere entdecken nun die Feldarbeit. In Assencières, einer ruralen Gemeinde der gewellten Champagne-Gegend, hat die vor drei Generationen aus Deutschland eingewanderte Familie Winkler ein Halbdutzend Hilfskräfte zum Spargelstechen angeheuert.
Darunter sind zwei Polen, die jeden Frühling auf das Gut kommen, ferner ein Schreiner, eine Wirtin, ein Arbeitsloser, ein Kanalisationsunternehmer sowie eine Krankenpflege-Schülerin namens Charlotte. Die 22-jährige wohnt in der nahen Stadt Troyes und bereitet im Treibhaus gerade die Erdbeerlese vor. «Es tut gut, anderen helfen zu können», meint sie. «Hier habe ich gemerkt, dass ich mich auf dem Land zu Hause fühle, unter anderem, weil ich hier mit den Händen arbeiten kann.»
Charlotte hat gelernt, ein Spargeleisen zu bedienen - und sie weiss, dass das leuchtende Grün des Gerstenfeldes derzeit zu hell ist, weil es an Regen fehlt. Mit ihrem aus einer Agrarfamilie stammenden Verlobten will sie einen Bauernhof gründen. Und das nicht nur wegen Corona. «Unser Plan ist älter als diese Krise. Aber sie bestätigt uns in unserer Absicht», meint Charlotte. «Auch wenn vieles unsicherer wird, ist mir auch vieles klarer geworden», sinniert die junge Frau. «Auf jeden Fall ändert sich gerade alles.»
Ja, auf der Rückfahrt nach Paris verkündet das Autobahnradio für einmal keine Unfälle oder Staus, sondern die Präsenz von Wildschweinen auf der fast menschenleeren A26. Rousseau wäre begeistert. (aargauerzeitung.ch)