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Corona-Demo in Berlin: «Ich darf doch sterben, wenn ich will, oder?»

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Viele Demonstrierende haben in Hinblick auf die Wasserwerfer Regenmäntel und -ponchos eingepackt. Bild: keystone

Corona-Demo in Berlin: «Ich darf doch sterben, wenn ich will, oder?»

Zur Demonstration gegen die Reform des Infektionsschutzgesetztes sind Tausende Menschen nach Berlin gekommen. Die Hygieneregeln nimmt hier fast keiner ernst – genau wie die Corona-Pandemie.
18.11.2020, 22:0719.11.2020, 09:08
Josephin Hartwig / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Anspannung und Ungewissheit liegen in der Luft. Polizisten haben seit den frühen Morgenstunden Sperren im Berliner Regierungsviertel errichtet. Sie lassen niemanden auch nur in die Nähe des Bundestags. «Hier können sie heute nicht vorbei», sagt ein Beamter und weist mit der Hand zwei Menschen an, weiter zu gehen.

Mehr als 2'000 Polizisten, auch aus anderen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, sind am Mittwoch in der Hauptstadt im Einsatz. Vorboten eines turbulenten Tages.

Aus ganz Deutschland sind Demonstranten gekommen, um gegen die Reform des Infektionsschutzgesetzes zu protestieren. Vor mehreren Bühnen finden Kundgebungen statt. Am Vorabend hatte das Innenministerium noch einige der Veranstaltungen untersagt.

Immer wieder gibt es Aufrufe von den Veranstaltern und Sprechern auf der Bühne, die Hygienekonzepte einzuhalten und eine Maske zu tragen. Daran halten sich allerdings die wenigsten.

«Für unsere Kinder und ihre Zukunft müssen wir jetzt etwas unternehmen.»
Demonstrant

«Die denken wohl, die können alles mit uns machen», sagt ein älterer Mann, etwa 65 Jahre alt, vor dem Gebäude des ARD Hauptstadtstudios. Seinen Namen, seinen Beruf oder seinen Wohnort will er nicht nennen. Das will eigentlich niemand. Der Mann trägt eine Maske, die allerdings seine Nase nicht bedeckt. Sein Kopf ist hochrot angelaufen, er redet sich schnell in Rage.

Die Gesetzesreform, über die der Bundestag zur gleichen Zeit berät, ist für den 65-Jährigen nur der Anfang. «Für unsere Kinder und ihre Zukunft müssen wir jetzt etwas unternehmen», sagt er. Die Regierung wolle jeden Menschen in diesem Land mundtot machen. Das lasse er nicht zu, deshalb sei er gekommen.

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Ein Demonstrant schreit Parolen in Richtung der Polizisten an der Demo in Berlin, 18. November 2020.Bild: keystone

«Frieden, Freiheit, keine Diktatur» ist der begleitende Singsang dieses Tages. Immer wieder steigen Hunderte Menschen mit ein, recken die Faust in die Höhe, wohl um die Ernsthaftigkeit ihrer Aussage noch einmal zu bestätigen. Eine Polizistin aus dem Kommunikationsteam vor Ort rollt mit den Augen und sagt überraschend: «Ich sehe das genauso. Aber ist ja mein Job hier zu sein.»

Kaum jemand trägt eine Maske

Am Brandenburger Tor ist die Atmosphäre am Morgen noch recht entspannt. Die Menschenmassen, die hier in wenigen Stunden zusammenkommen, halten sich zu Beginn der Demonstration auch an die gebotenen Abstände. Doch mit der Zeit gibt es keine mehr. Eine Maske trägt kaum jemand. Wieso auch? Schliesslich gebe es keine Pandemie, heisst es hier immer wieder.

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Ein Sammelbecken für viele verschiedene Vorstellungen und Motive: Protestierende in Berlin.Bild: keystone

Alles sei eine Erfindung der Bundesregierung für den «Great Reset», für die Einführung einer totalitären Gesellschaftsordnung, ist sich ein Mann aus Frankfurt am Main sicher. Eigentlich arbeitet er als Pilot. Auch er will seinen Namen nicht nennen, denn die Medien würden ohnehin von Merkel in den Block diktiert bekommen, was sie schreiben dürften. «Lesen Sie die Berichte. Das, worauf sich die Regierung bezieht, stimmt so nicht», ist er sich sicher.

Das Robert Koch-Institut könne auch nur die jährlichen Influenza-Toten schätzen und habe somit gar keinen Vergleichswert, wie viele Menschen tatsächlich am Coronavirus sterben würden. «Da wird doch gar nicht jeder Tote getestet», sagt er.

Ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster der Corona-Leugner: Das Virus sei nicht schlimmer als eine Grippe. Warum das ein gefährlicher Irrglauben ist. Inzwischen gibt es auch eine gute Datenlage zu möglichen Langzeitfolgen von Covid-19.

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Die Wasserwerfer im Einsatz während der Anti-Corona-Demo in Berlin am 18. November 2020.Bild: keystone

Kurze Zeit später kippt die Lage. Die Polizei lässt Wasserwerfer anrollen. Eine 70-jährige Frau aus Baden-Württemberg lacht freudestrahlend in die Menge, als die ersten vorfahren. Eine Maske trägt sie nicht. Sie denkt zwar schon, dass es vielleicht eine Corona-Pandemie gibt.

Doch die von der Bundesregierung beschlossenen Einschränkungen zur Eindämmung, die versteht sie nicht. «Ich darf doch sterben, wenn ich will, oder?», sagt sie und tanzt weiter zu den Klängen einiger Trommler, die in der Nähe auf dem Boden sitzen.

Auch in Zürich gab es bereits Corona-Demos:

Video: extern / rest/CH Media
«Das ist Krieg gegen die Menschheit, was hier passiert.»
Demonstrantin

Es sei immer noch die Entscheidung jedes einzelnen Menschen, ein Risiko für sich selbst einzuschätzen oder eben nicht. Ihr könne niemand vorschreiben, eine Maske zu tragen. Ausserdem müsse man bedenken, dass viele Menschen ihren Job verlieren, als Folge der Einschränkungen. «Das ist Krieg gegen die Menschheit, was hier passiert», ihre Stimme überschlägt sich fast.

Veranstalter erklärt Demo für beendet

Es ist 12.30 Uhr, als zwischen Bundestag und Brandenburger Tor erstmals die Wasserwerfer zum Einsatz kommen. Zuvor hatte der Veranstalter die Versammlung für beendet erklärt. Dem war ein Ultimatum der Polizei vorausgegangen.

«Die Polizei hat mir einfach Tränengas ins Gesicht gesprüht, ohne Vorwarnung.»
Demonstrant

Die Demonstranten interessiert das allerdings nicht. Stunde um Stunde lassen sie sich von den Wasserwerfern, die Wasser auf die Menge niederregnen lassen, völlig durchnässen. Viele sind darauf vorbereitet, haben Regenschirme, Regenponchos und Regenjacken dabei.

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Mit der Zeit wird der Ton ungehaltener: Einige Protestierende werden festgenommen, andere berichten von Tränengas-Einsatz.Bild: keystone

Die Stimmung verändert sich, wird rauer und aggressiver. Ein Mann läuft mit roten Augen durch die Menge und ruft: «Die Polizei hat mir einfach Tränengas ins Gesicht gesprüht, ohne Vorwarnung.» Auf Nachfrage erklärt er, er habe noch versucht, in der ersten Reihe zu deeskalieren und auch geholfen, einige Schläger rauszuziehen. «Und dann kam die zweite Reihe Polizisten und der eine feuert mir damit einfach direkt ins Gesicht.»

«Ihr wollt ein neues Kaiserreich»

Videos von Polizisten, die mit Gewalt gegen Demonstranten vorgehen, kursieren im Internet. Eine Einordnung, wie es zu den Situationen kam, gibt es nicht. Die Polizisten vor Ort müssen sich viele Beschimpfungen anhören. Eine ältere Frau steht mit einem Megafon direkt vor dem Brandenburger Tor.

Nur eine Barriere und etwa zwei Meter Abstand trennen sie von den Beamten. «Ihr wollt ein neues Kaiserreich. Guckt euch an, wer euch bezahlt, da habt ihr es», ruft sie und sagt gleich darauf immer wieder: «Volksverräter, Volksverräter». Andere Demonstrierende steigen mit ein.

«Hier gibt es keine Meinung, die nicht vertreten ist.»
Polizist an der Demonstration

Die Polizisten verlassen ihre Positionen nicht. Auch als das Wasser der Wasserwerfer sie ebenfalls trifft. «Hier gibt es keine Meinung, die nicht vertreten ist», sagt ein Polizist, als eine Trump-Flagge ins Auge sticht.

Ein Demonstrant trägt eine vermutlich schusssichere Weste, zwei Mal wird Pyrotechnik abgefeuert, mehrere Deutschlandfahnen schwingen in der Luft. «Das hier ist Krieg», ruft der Mob, der angeblich für Freiheit und Frieden protestieren will.

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Die Polizei hat alle Hände voll zu tun und muss sich auch Beschimpfungen anhören an der Berliner Demonstration.Bild: keystone

Zahlreiche Teilnehmende der Versammlung tragen Buttons an ihrer Kleidung, auf denen «Umarmung» steht, Luftballons in Herzform steigen hier und da in die Luft. Sechs Stunden sind seit dem Beginn der Demonstration vergangen. Ein Teil der Strasse zwischen Bundestag und Brandenburger Tor ist inzwischen geräumt. Doch aufgeben will hier niemand. Noch immer sind es Tausende, die dicht zusammenstehen.

«Das ist unsere letzte Chance», sagt ein älterer Demonstrant. Er befürchte, dass es mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes, die am Nachmittag von Bundestag und Bundesrat mit jeweils grosser Mehrheit beschlossen wird, keine Versammlungsfreiheit, keine Pressefreiheit und auch kein Recht auf Demokratie in Deutschland mehr geben werde.

«Die Wahrheit kommt immer ans Licht», ruft am Ende wieder die Frau mit ihrem Megafon, während sie erneut einen Schwall des Wasserwerfers abbekommt. Doch Wahrheit scheint an diesem Tag ein dehnbarer Begriff zu sein.

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193 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Coffeetime ☕
18.11.2020 22:51registriert Dezember 2018
Bin fassungslos. Habe einige Tweets gesehen, u.A. dass es jetzt Mücken gäbe, die mit dem Impfstoff bestückt sind und dass im alten Flughafen Berlin jetzt sozusagen gefoltert wird. 🙈🙈🙈

Mann-o-Mann. Zu viel Gras, zu viel Zeit, zu viel Internet? Und keine Medienkompetenz. Leider habe ich kein Patentrezept, habe auch so einen Schwurbler in der Familie. Hat sein Geld in den Sand gesetzt, aber die anderen sind schuld... ist jetzt mit Ü80 ausgewandert, weil er sich DE nicht mehr leisten kann und es eh nur eine Diktatur ist...🤷🏻‍♀️
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AfterEightUmViertelVorAchtEsser___________________
18.11.2020 23:54registriert August 2017
«Ich darf doch sterben, wenn ich will, oder?»

Sagt der Raser und gibt Vollgas

Parallelen sind rein zufällig
20817
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Tamisiech
18.11.2020 23:37registriert August 2015
Ich kann es nicht mehr hören dieses Argument von wegen "selber entscheiden, ob ich krank werden / sterben will".

Es👏🏼geht👏🏼auch👏🏼darum👏🏼andere👏🏼zu👏🏼schützen👏🏼und👏🏼nicht👏🏼krepieren👏🏼zu👏🏼lassen.
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