Obwohl die Statistik noch verhältnismässig tiefe Werte anzeigt, steht Indien am Rande der Krise: Während die indische Polizei auf fragwürdige Bestrafungen von Regelbrechern setzt, steigt die Not in den Slums rasant an, und Ministerpräsident Modi unterdrückt kritische Stimmen.
Die folgenden acht Punkte verdeutlichen, wie das Coronavirus die Schwachpunkte der bevölkerungsreichsten Demokratie zu Tage fördert und das Leid vieler Menschen vermehrt.
Indiens erster bestätigter Corona-Fall ist auf den 30. Januar 2020 datiert – mit direkter Verbindung nach China. Am 14. März verzeichnete das Land seinen 100. Fall und sechs Wochen später, am 26. April, haben sich offiziell 27'977 Personen im Land infiziert und 884 Menschen sind am neuartigen Virus gestorben.
Mit diesen Zahlen steht das Land, das von über 1,36 Milliarden Menschen bevölkert wird, statistisch sehr gut da. Zum Vergleich: Gemäss der Datenbank Worldometers ist die Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz am Coronavirus zu sterben, 310-mal höher als in Indien. Gegenüberstellungen dieser Art spiegeln allerdings nur bedingt die Realität wider: Nach wachsender Kritik an der passiven Testpraxis wurde die Zahl Mitte April auf knapp 450'000 Tests pro Tag erhöht.
Indien steht an einem gänzlich anderen Punkt des Pandemie-Verlaufs als die Schweiz. Sowohl die Infizierten- als auch die Todesfälle steigen noch immer stark exponentiell und an eine baldige Abflachung der Kurve ist nicht zu denken.
Dem Obersten Gerichtshof Indiens zufolge sollen sich künftig alle Bürgerinnen und Bürger kostenlos gegen Corona testen lassen können. Ein Grossteil der ärmeren Bevölkerung ist auf gebührenfreie Tests angewiesen, da sie sich diese schlicht nicht leisten können. Die Verordnung droht nun die Kapazität der privaten Labore zu sprengen.
Auch die Kapazitäten des nationalen Gesundheitssystems bereiten Sorgen. In Indien fliessen nur rund 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in das öffentliche Gesundheitssystem. Das ist einer der niedrigsten Werte weltweit. Und die Kapazitäten der Spitäler sind begrenzt.
Deshalb hat die indische Regierung den am 25. März verhängten Lockdown um weitere Wochen bis und mit 3. Mai verlängert. Es ist die grösste Ausgangssperre der Welt.
Laut der Times of India sorgt sich die Regierung des Landes zunehmend um die Stigmatisierung infizierter Personen durch andere, sowie die steigenden Gewaltverbrechen gegenüber positiv Getesteten. Die Ächtung würde Menschen davon abhalten, sich bei auffälligen Symptomen testen zu lassen.
Die Diskriminierungen haben einen Rückgang von fast 5% verdächtiger Patienten zur Folge. Das schlägt sich in der Statistik nieder: Nur 482 Menschen pro eine Million Einwohner lassen sich testen. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 28'343 pro eine Million Einwohner – ähnlich wie in Spanien und Italien. Deshalb muss angenommen werden, dass die Dunkelziffer in Indien extrem hoch ist.
Die Stigmatisierungen gingen teils so weit, dass mehrere Ärzte und Krankenpflegende in Indien von Vermietern aus ihren Wohnungen geworfen wurden – die Eigentümer befürchteten, das medizinische Personal sei einem zu grossen Risiko ausgesetzt und könne das Virus verbreiten.
In den vergangenen Wochen haben immer wieder Meldungen über die indische Polizei für Schlagzeilen gesorgt. Mit auffälligen Corona-Hüten wollten die Beamten beispielsweise für die Gefahr des Virus und die Ausgangssperre sensibilisieren.
Um Regelbrecher der Ausgangssperre zu bestrafen, griff die Polizei teils auf sehr kontroverse Methoden zurück. Regelbrecher, die sich nicht an die Corona-Vorschriften hielten, wurden mit Stöcken geschlagen oder mussten mitten auf der Strasse Turnübungen verrichten. Touristen bilden derweil keine Ausnahme. Wegen eines Spaziergangs mussten zehn Touristen 500 Mal schreiben: «Ich habe mich nicht an die Ausgangssperre-Regeln gehalten und das tut mir sehr leid.»
Medienberichten zufolge drohten Beamte, Regelbrecher in einen Raum einzusperren und dort ununterbrochen Bollywood-Filmmusik spielen zu lassen. Für ein noch grösseres Medienecho sorgte ein Video, das zeigt, wie Polizisten mehrere junge Männer in einen Sanitätswagen sperren. In dem Wagen befindet sich ein Mann, der vorgibt, infiziert zu sein. Die Männer drücken sich panisch in die Ecken des Autos, während ihnen der angebliche Patient immer näher kommt. Am Schluss des Videos sagt eine Polizistin: «Wenn du herumläufst, könnte jeder das neuartige Coronavirus haben und du weisst es vielleicht nicht.»
Die Konsequenzen des Lockdowns treffen die ärmsten Bevölkerungsschichten besonders stark. Im Slum Dharavi bei Mumbai – stellvertretend für alle armen Regionen des Landes – leben rund eine Million Menschen auf zwei Quadratkilometer zusammengepfercht.
Weniger als ein Prozent hat eine eigene Toilette, der Grossteil ist auf Gemeinschaftsanlagen angewiesen. Gemäss dem Guardian kommen auf eine öffentliche Toilette rund 50 bis 60 Menschen, was der Verbreitung des Virus sehr zuträglich ist.
Die Enge, die mangelhafte medizinische Versorgung und der schwierige Zugang zu Nahrungsmitteln wird mit der nationalen Ausgangssperre noch verschärft. Anfang April löste die Bekanntgabe der ersten infizierten Person im Slum Panik aus – der Kranke, ein 56-jähriger Mann, starb nur wenige Tage nach seinem Testergebnis. Distanzierung und Desinfektion sind an einem Ort wie diesem unmöglich. Mit der steigenden Anzahl Infektionen mutiert der Slum zu einer tickenden Bombe.
Nebst Corona fürchten die Menschen in Dharavi, einem der grössten Slums im asiatischen Raum, auch weitere Krankheitsausbrüche sowie einen allgemeinen Anstieg von Hunger, Gewalt und Armut. Nicht nach draussen und arbeiten gehen zu können, bedeutet für viele die existentielle Bedrohung. Die Lebensmittelknappheit im Land entwickelt sich unter Corona in eine Lebensmittelkrise.
Der Lockdown traf auch die Millionen indischen Wanderarbeiterinnen und -arbeiter hart. Kurz nach dem abrupten Ausruf der Sperre begaben sich Abertausende auf die beschwerliche Heimreise in ihre meist hunderte Kilometer entfernten Heimatdörfer – Züge fahren keine mehr.
Bilder von überfüllten Busstationen und Strassen voller Menschen lassen erahnen, welch drastische Auswirkungen der Lockdown auf das Leben vieler Arbeiterinnen und Arbeiter und somit die Wirtschaft Indiens haben wird. Längst nicht alle finden einen Platz im Bus oder können sich ein Ticket leisten. Viele sind wochenlang zu Fuss unterwegs. Einige sterben an Hunger oder Erschöpfung.
Auch zum heutigen Zeitpunkt wurden kaum Busse aufgeboten, um die Menschen zu transportieren. Viele sind gestrandet oder befinden sich nach wie vor auf ihrem Weg nach Hause. Die Arbeitslosenquote steigt indes rasant an – allein in den urbanen Regionen ist sie auf 31 Prozent angewachsen.
Pandemonium struck New Delhi over the weekend as thousands of migrant workers, left without food and shelter due to India’s coronavirus lockdown, fled to their home villages https://t.co/YYmDa0wYL9 pic.twitter.com/OWfkqy5mSh
— Reuters (@Reuters) March 29, 2020
Die indischen Wanderarbeiterinnen und -arbeiter sind die billigsten Arbeitskräfte des Landes. Die meisten arbeiten als Tagelöhner, ohne jegliches finanzielles Polster. Sie kommen aus ländlichen Gebieten in Städte wie Mumbai oder Neu-Delhi, um beispielsweise in der Bauwirtschaft etwas Geld zu verdienen und an die zurückgeblieben Verwandten schicken zu können.
Anfang Dezember letzten Jahres, als die ersten Coronavirus-Fälle bekannt wurden, protestierten in Indien Tausende nach einer erneuten Vergewaltigung und Tötung einer jungen Frau. Sie forderten ein gerechtes Justizsystem, Lynchmord und Zwangskastrationen. Der Fall bildet jedoch keine Ausnahme.
Die Sicherheit von Frauen ist in Indien im internationalen Vergleich extrem schlecht gewährleistet. Laut den Behörden werden jährlich rund 40'000 Vergewaltigungen angezeigt, die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen: Eine Vergewaltigung gilt in Indien nicht als Schande des Täters, sondern als die des Opfers.
Gründe für die massive Gewalt gegen Frauen wurzelt in den Tiefen der kulturellen Traditionen: In der Jahrhunderte alten Sozialordnung des Kastenwesens ist eine Frau weniger wert als ein Mann. Grund dafür ist die Mitgift, die Eltern ihrer Tochter bei der Hochzeit mitgeben – trotz offiziellem Verbot. Viele weibliche Föten werden deshalb abgetrieben.
Laut UN-Daten kommen 2019 mehr als 108 Männer auf 100 Frauen. Dieses Missverhältnis führt zu weiteren Spannungen zwischen den Geschlechtern. In Zeiten der Pandemie berichten Medien von steigender häuslicher Gewalt und von Frauen, die auf ihrem Weg ins Spital vergewaltigt wurden.
Der erste Infizierte aus dem Slum Dharavi ist selbst nie im Ausland gewesen, doch er beherbergte einige Männer bei sich, die zuvor an einem religiösen Fest teilgenommen hatten. An diesem Fest haben sich laut Behörden zahlreiche Menschen angesteckt. Religiöse Feste oder auch Beerdigungen von Geistlichen ziehen trotz Lockdown Zigtausende Anhänger an – und fungieren somit als Katalysatoren der Virusausbreitung.
Drei Religionen sind in Indien hauptsächlich vertreten: Die Hindus stellen mit über 80 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung im Land dar, gefolgt von den Muslimen mit 13,4 Prozent. Die christliche Gemeinde zählt 2,3 Prozent.
Der Glaube hat im alltäglichen Leben in Indien eine wichtige Bedeutung inne, weshalb viele Menschen trotz der Ausgangssperre an ihrer religiösen Praxis festhalten. Ein Beispiel aus dem belebten Einkaufsviertel Chandni Chowk zeigt, dass die Menschen die Abstandsregeln im grossen Stil nicht einhalten – zu wichtig sind die Einkäufe für das kommende Ramadan-Fest.
Das Vorgehen des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi in der Coronakrise erntet sowohl Lob als auch Kritik. Seine wirtschaftsliberale Politik hat in den letzten Jahren zu umfangreichen Kürzungen des Sozialstaates und der Gesundheitsvorsorge geführt. Um die Konsequenzen dessen abzufedern, hofft Modi, die Coronakrise zur Stärkung der indischen Exportwirtschaft nutzen zu können.
Knapp 90 Prozent der Inderinnen und Inder arbeiten in der informellen Wirtschaft, ohne Verträge oder Versicherung. Die grassierende Lebensmittelknappheit und die Rezession machen dem Land zusätzlich zu schaffen. Die von Modi abrupt verkündete Ausgangssperre verstärkt diese Probleme zusätzlich. Am Tag der Ankündigung verloren rund 50 Millionen Inderinnen und Inder ihre Arbeit.
Doch statt der Bevölkerung die Angst zu nehmen und sich kritischen Fragen der Medien zu stellen, schweigt der Premierminister. Kritischen Journalisten wird der Zugang zu Informationen gar komplett verweigert. Die Presse sieht sich in Indien schon einige Zeit steigendem Druck ausgesetzt, nun scheint die Regierung die Coronakrise dahingehend zu nutzen, die Pressefreiheit weiter einzuschränken.
Mehrere ausländische Medienhäuser, darunter der Guardian, berichten von zunehmenden Verfolgungen und Verhaftungen regierungskritischer Journalisten, Schriftsteller und Intellektueller durch Modis Regierung während der Pandemie. Die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt kann kaum noch Pressefreiheit vorweisen.
Die Kritik habe ich gesehen, aber wo blieb das Lob?
Wenn es wirklich einen Zusammenhang gibt, zwischen der hohen Sterblichkeitsrate Covid Erkrankter und schlechter Luft, dann sieht es für die Menschen in den Grossstädten von Indien schlimm aus.