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Überlegt euch gut, was ihr euch wünscht – es könnte in Erfüllung gehen. Mit dieser Erkenntnis sehen sich nicht wenige Menschen in Grossbritannien konfrontiert, die letzte Woche auf dem Wahlzettel die «Leave»-Box angekreuzt haben. Einer von ihnen ist Kelvin MacKenzie, ehemaliger Chefredaktor des Revolverblatts «The Sun». Nur vier Tage nach der Abstimmung bekannte er, seinen Entscheid zu bereuen: «Um die Wahrheit zu sagen, fürchte ich das, was vor uns liegt.»
Kelvin MacKenzie: 'I have buyer's remorse. To be truthful I am fearful of what lies ahead'. pic.twitter.com/uLAxxcuTCi
— Matthew Moore (@mattkmoore) June 27, 2016
Die Zeitung hatte vehement für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union getrommelt und bleibt eisern auf Linie. MacKenzie aber ist längst nicht er einzige Brite, der sich nun fragt, ob sein Brexit-Ja wirklich eine gute Idee war. Da wären etwa jene Industriearbeiter, die aus Ärger über die Zuwanderung für «Leave» gestimmt haben und nun um ihren Job bangen. Oder jener Forscher aus Sheffield, der dem «Guardian» gestand, er schäme sich dermassen für sein Pro-Brexit-Votum, dass er sich bei seiner Frau und den Kindern entschuldigt habe.
Grossbritannien ist am letzten Freitag nicht etwa aus einem Albtraum erwacht, der Inselstaat ist mit voller Wucht in einen solchen hinein gestürzt. Aus der Wirtschaft mehren sich die Warnungen vor negativen Folgen, falls Britannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren sollte. Gleichzeitig wird eine Häufung rassistischer Vorfälle registriert. Und in der Politik ist das Chaos ausgebrochen. Die Erschütterungen in der Schweiz nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wirken im Vergleich wie eine Sandkasten-Rangelei.
One week after voting to leave the EU, Britain has seldom looked so wildly off the railshttps://t.co/mUyB67kAF2 pic.twitter.com/k59Ja9T3bS
— The Economist (@TheEconomist) June 30, 2016
«Anarchy in the UK», brachte es das Magazin «The Economist» wieder einmal treffend auf den Punkt. Wobei sich die Uralt-Punker der «Sex Pistols» wundern dürften, wie sich vor 40 Jahren ins Mikrophon geschrienen Parolen materialisiert haben. Der Volksentscheid hat in den beiden grossen Parteien ein akutes Führungsvakuum erzeugt. Labour-Chef Jeremy Corbyn wurde von der überwältigenden Mehrheit seiner Unterhausfraktion das Vertrauen entzogen, weil sich der Altlinke und ewige EU-Skeptiker nur lauwarm gegen den Brexit engagiert hatte.
Corbyn aber denkt nicht an Rücktritt, er verweist auf seine deutliche Wahl durch die Parteibasis im letzten Jahr. Das brachte selbst für den konservativen Premierminister David Cameron das Fass zum Überlaufen. In der Fragestunde des Unterhauses rief er dem Oppositionsführer zu: «Um Himmels Willen, Mann, gehen Sie!» Cameron hatte nach dem Urnengang die Konsequenzen gezogen und seinen Rücktritt erklärt. Er bleibt jedoch bis Anfang September im Amt, als ultralahme Ente.
Um seine Nachfolge bei den Tories ist ein Machtkampf im Gang, den man als Drama von shakespearschem Ausmass bezeichnen könnte, wäre er nicht eine derartige Schmierenkomödie. Der vermeintliche Kronfavorit Boris Johnson nahm sich am Donnerstag selbst aus dem Rennen, nachdem ihm sein engster Brexit-Mitstreiter, Justizminister Michael Gove, das Messer in den Rücken gestossen und seine eigene Kandidatur für den Parteivorsitz angemeldet hatte.
Am Montag hatte Johnson noch den Märchenonkel gespielt und den Briten in seiner Kolumne im «Daily Telegraph» eine rosige Zukunft vorgegaukelt, in der sie sich aller Vorteile des EU-Binnenmarktes erfreuen dürfen, aber ohne Personenfreizügigkeit und ohne Zahlungen an die EU. Also den Fünfer und das Weggli, oder wie es im Englischen heisst: «You can't have your cake and eat it too.» Im Fall von Boris ging es nicht nur um einen Kuchen, sondern eine Bäckerei.
Stets stand der clowneske Ex-Bürgermeister von London im Verdacht, sich nur aus Machtkalkül an die Spitze der Brexit-Bewegung gestellt zu haben. Zuvor galt Johnson als Gegner eines EU-Austritts. Statt sich nun in den Kampf um das Amt des Premierministers zu stürzen, machte er sich feige durch die Hintertür davon. Sein Abgang passt er zur blamablen Vorstellung der Brexit-Befürworter, die ihre wolkigen Versprechungen aus dem Abstimmungskampf kräftig relativieren.
Damit erzeugen sie Konsternation bei vielen, die ihren Schalmeienklängen gefolgt sind. Und nackte Wut bei jenen, die für «Remain» gestimmt haben und sich nun betrogen fühlen. Deshalb mehren sich die Rufe nach einer Revision des Volksentscheids. Brexit-Gegner wie der Unternehmer und Abenteurer Richard Branson fordern eine zweite Abstimmung. Einfacher wäre ein Votum des Parlaments, das mehrheitlich aus Pro-Europäern zusammengesetzt ist. Es könnte den Entscheid umstossen, der rechtlich ohnehin nicht bindend ist, und den EU-Austritt stoppen.
Möglich wäre dies wohl erst nach Neuwahlen, die als Legitimation für ein solches Vorgehen interpretiert werden könnten. Daneben stellt sich die Frage, wie ein Brexit-Debakel künftig vermieden werden kann. In der Pflicht sind nicht zuletzt jene jungen Briten, die nun das Gefühl haben, ihnen sei die Zukunft geraubt worden. Dabei müssten sie sich an der eigenen Nase nehmen. Zu wenige von ihnen liessen sich am Tag X in den Wahllokalen blicken.
Man fühlt sich erneut an die Abstimmung in der Schweiz über die Zuwanderung erinnert. Nach dem 9. Februar 2014 herrschte gerade bei den Jungen Katzenjammer. Allerdings liessen sie es nicht dabei bewenden. Sie gründeten Bewegungen wie Operation Libero, die sich für eine Schweiz einsetzt, die «ein Chancenland ist und kein Freilichtmuseum». Wohin dies führte, zeigte eine weitere bemerkenswerte Abstimmung im bemerkenswerten ersten Halbjahr 2016.
Am 28. Februar wurde über die Durchsetzungsinitiative der SVP abgestimmt. Im Vorfeld deutete vieles auf einen Erfolg für die Blocher-Partei hin. Dieses Mal aber verhielten sich die Anhänger einer offenen Schweiz nicht verzagt, wie das bei früheren Abstimmungen der Fall war. Sie stürzten sich beherzt in den Kampf. Es kam zu einer ungeahnten Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Sie verwandelte eine scheinbar sichere Niederlage in einen glänzenden Sieg.
Ohne den MEI-Schock von 2014 wäre es kaum zu diesem Ergebnis gekommen. Die britischen Chaostage nach dem Brexit-Entscheid könnten eine ähnliche Initialzündung auslösen, zumindest bei jenem Teil von Europas Jugend, der die Herausforderungen der globalisierten und digitalisierten Welt annehmen will. Und sich den Weg dorthin nicht von einer älteren Generation zumauern lässt, die damit überfordert ist und sich nach der «guten alten Zeit» zurücksehnt.
Während der Brexit-Kampagne war wiederholt die Rede vom «Swiss Way» als Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Ein solcher Swiss Way könnte tatsächlich zum Vorbild für Europa werden, wenn auch ganz und gar nicht so, wie sich das die rechten Nationalisten vorstellen.
Aus aktuellem Anlass: