Und weg sind sie: Nachdem die Brexiteers begleitet von Dudelsackklängen aus dem EU-Parlament ausgezogen und die Union-Jack-Fahnen eingeholt waren, stellte sich gestern in Brüssel das Gefühl ein, verlassen worden zu sein. Ein «Tag der Verwunderung» sei das, sagte der EU-Parlamentspräsident David Sassoli. In einem für Politikerverhältnisse raren Moment der Selbstreflexion fügte er an: «Warum eigentlich versuchen alle, uns auseinander zu bringen?»
Gute Frage, auf die aber auch der Italiener keine wirklich befriedigende Antwort hatte. Fest steht: Sowohl für die Briten wie auch für die Europäer beginnt nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs heute der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Ein Neuanfang soll es sein, für beide. Dies, auch wenn der Brexit natürlich noch lange nicht abgehakt ist und der erbitterteste Teil der Verhandlungen vielleicht erst noch bevorsteht.
Eine Brexit-Lektion, die in Brüssel immer wieder genannt wird, ist die: Wir müssen uns besser verkaufen, näher an die Menschen ran. Schuld am Brexit sei schliesslich auch das eigene kommunikative Versagen. Man habe es nicht geschafft, ein positives Narrativ zu schaffen, den Mehrwert herauszustreichen, den die Europäische Union schafft. Was bringt diese EU eigentlich dem einzelnen Bürger und vor allem: Was wollen die eigentlich?
Eine «Konferenz über die Zukunft Europas» soll das nun herausfinden. Zwei Jahre lang soll sie dauern und die Meinungen und Ansichten der Menschen sammeln und einbeziehen. Ein «Abenteuer», nennt das Parlamentspräsident Sassoli. Für die stets von oben nach unten regierte EU wohl war. Aber auch die EU-Beamten in Brüssel sind in ihrer täglichen Arbeit nun vermehrt angehalten, sich zu fragen: Was können wir tun, um die EU den Bürgerinnen und Bürgern näherzubringen? Jede neue Regel, jedes neue Gesetz soll diesen Test bestehen. «Eine Wirtschaft im Dienst der Menschen», heisst das dann im EU-Jargon.
Einige konkrete Ideen schwirren herum. Da wäre etwa die Geschichte mit dem Kabelsalat. Die EU-Kommission beabsichtigt, einen einheitlichen Ladestecker für Elektrogeräte einzuführen. Dem Horten aller möglichen USB-Varianten und Sorten von Ladekabeln würde damit ein Ende bereitet. Ein weiterer Vorstoss ist die Abschaffung des Klimpergeldes. Wer braucht schon 1-Cent-Münzen, die das Portemonnaie verstopfen und deren Produktion mehr kostet, als sie wert sind?
Bereits in der jüngeren Vergangenheit haben EU-Beamte bewiesen, dass sie durchaus ein Gespür für die Temperatur der Volksseele haben. Die Abschaffung der Roamingkosten war PR-technisch wahrscheinlich der grössere Erfolg als die Einführung des Euros.
Und auch das noch frische Verbot von Plastikröhrli und Plastikeinwegtaschen stösst in Zeiten der Klimakrise auf breites Wohlwollen bei den EU-Bürgerinnen und -Bürgern. Dagegen hat sich die Abschaffung der Sommerzeit als Desaster herausgestellt, über welche die EU-Mitgliedstaaten seit anderthalb Jahren erbittert streiten.
Bei allen kurzfristigen Lorbeeren, die die EU mit bürgernahen, aus dem Leben gegriffenen Vorstössen und Initiativen vielleicht noch einheimsen kann: Es sind am Schluss doch bloss Scheingefechte. Die grossen Fragen des Klimawandels, der Umwälzung durch digitale Technologien und ein stärker werdendes China harren unvermindert einer Antwort. Sie sind für die Bürger schliesslich ebenso nah wie das Glühbirnenverbot.
Grossbritannien, das oft als unbequem empfunden wurde, wäre für die EU bei diesen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein wichtiger Verbündeter, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash im Gespräch mit der «NZZ» treffend festhält. Ob diese Erkenntnis in Brüssel als Grundlage für die Verhandlungen der künftigen Partnerschaft dienen wird, muss sich aber noch zeigen.