Um 07:29 Uhr (UTC) hebt die Ryanair-Maschine in Athen ab. Ziel: Vilnius, die Hauptstadt Litauens. Rund zwei Stunden nach Abflug, um 09:30 Uhr, tritt das Flugzeug in den belarussischen Luftraum ein.
Eine Viertelstunde nach Eintritt in belarussischen Luftraum macht die Maschine eine 180-Grad-Kehrtwende. Zu diesem Zeitpunkt ist sie nur noch 72 Kilometer von Vilnius entfernt. Zwei Minuten später setzt sie einen Code ab, der eine Luftnotlage signalisiert.
Die Crew sei von der belarussischen Luftverkehrsüberwachung über eine mögliche Sicherheitsbedrohung an Bord informiert worden, teilt die irische Fluggesellschaft Ryanair in einer späteren Erklärung mit. Dann seien sie instruiert worden, zum nächstgelegenen Flughafen zu fliegen: Minsk.
Wie dieser Tweet von Flightradar24 zeigt, wäre die Zieldestination Vilnius für eine Notlandung allerdings näher gewesen:
Distance from beginning of #FR4978 diversion (N53.97,E25.22) to:
— Flightradar24 (@flightradar24) May 23, 2021
Vilnius airport (direct): 72 km
Minsk Airport (direct): 183 km
Minsk Airport (actual distance flown): 300 kmhttps://t.co/rnUpiqOjch pic.twitter.com/aGrbj9EsRl
Nach Angaben des belarussichen Generalmajor Andrei Gurtsewitsch habe der Pilot um Landerlaubnis in Minsk gebeten. Der stellvertretende Kommandeur der Luftverteidigungskräfte erklärte zudem, dass ein entsandter Kampfet der Überwachung der Maschine diente. Vermutet wird allerdings, dass den Piloten damit gedroht werden sollte.
#Belarus. Spotters have documented the landing of Mig-29 interceptor of Bel AF used to hijack the flight FR4978. It's been equipped with actual live air-to-air missiles. (4x Р-73Л, 2x Р-27Р w/ ПТБ-1500.)
— Ihar Filipau (@IFilipau) May 23, 2021
Via https://t.co/LQALLW4ARu pic.twitter.com/vHdEvICZXd
Das Flugzeug landet etwa eine halbe Stunde nach Kursänderung (UTC) in Minsk, wo es von Feuerwehrautos empfangen wird. Die Passagiere verlassen die Maschine und ihr Gepäck wird einer genauen Kontrolle unterzogen. Gemäss Ryanair wird dabei aber nichts Ungewöhnliches festgestellt.
Passenderweise befindet sich allerdings ein von Belarus gesuchter Mann an Bord: Der oppositionelle Blogger und Aktivist Roman Protassewitsch. Nach der Ankunft am Minsker Flughafen werden er und seine Partnerin Sofia Sapega festgenommen.
Einige Stunden nach der Landung des Flugzeugs in Minsk meldet sich der litauische Präsident Gitanas Nausėda auf Twitter. Er verurteilt die Festnahme Protassewitschs, welcher den oppositionellen Nachrichtenkanal «Nexta» mitbegründet hatte und forderte seine sofortige Freilassung:
Unprecedented event! A civilian passenger plane flying to Vilnius was forcibly landed in #Minsk. Belarusian political activist & founder of @NEXTA_EN was on the plane. He is arrested. 🇧🇾 regime is behind the abhorrent action. I demand to free Roman Protasevič urgently!
— Gitanas Nausėda (@GitanasNauseda) May 23, 2021
«Es ist absolut inakzeptabel, den Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius zu zwingen, in Minsk zu landen», schreibt EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen einige Stunden später auf Twitter.
It is utterly unacceptable to force @Ryanair flight from Athens to Vilnius to land in Minsk.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) May 23, 2021
ALL passengers must be able to continue their travel to Vilnius immediately and their safety ensured.
Any violation of international air transport rules must bear consequences.
Auch das griechische Aussenministerium kritisiert die Festnahme des Aktivisten am Sonntagabend scharf. «Griechenland verurteilt den Akt staatlicher Luftpiraterie, der heute zur Umleitung und Notlandung des Flugs Ryanair FR 4978 auf dem Weg von Athen nach Vilnius in Minsk führte.» Man verurteile die illegale Festnahme des belarussischen Aktivisten Roman Protassewitsch, dem in Belarus die Todesstrafe drohe.
Nach sieben Stunden Aufenthalt in Minsk hebt die Maschine um 17:47 (UTC) wieder ab. Um 18:26 Uhr (UTC) landet sie schliesslich auf dem Flughafen der litauischen Hauptstadt Vilnius (Ortszeit: 21:26 Uhr). Ursprünglich sollte die in Athen gestartete Maschine um 13:00 Uhr Ortszeit landen.
Die erzwungene Flugzeug-Landung in Minsk und mögliche Sanktionen gegen Belarus werden am Montagabend Thema bei einem ohnehin geplanten EU-Sondergipfel in Brüssel.
EU-Ratspräsident Charles Michel werde den Vorfall thematisieren, teilt sein Sprecher mit. «Konsequenzen und mögliche Sanktionen werden bei dieser Gelegenheit diskutiert.» Michel selbst teilt mit, der «beispiellose Vorfall» werde nicht ohne Konsequenzen bleiben.
US-Aussenminister Antony Blinken schreibt am Sonntagabend (Ortszeit) auf Twitter mit Blick auf den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, es habe sich um eine «dreiste und schockierende Tat des Lukaschenko-Regimes» gehandelt. «Wir fordern eine internationale Untersuchung und stimmen uns mit unseren Partnern über die nächsten Schritte ab. Die Vereinigten Staaten stehen an der Seite der Menschen in Belarus.»
We strongly condemn the Lukashenka regime's brazen and shocking act to divert a commercial flight and arrest a journalist. We demand an international investigation and are coordinating with our partners on next steps. The United States stands with the people of Belarus.
— Secretary Antony Blinken (@SecBlinken) May 23, 2021
Einen Tag nach der erzwungenen Landung einer Passagiermaschine in Belarus gibt es zum Verbleib des festgenommenen Oppositionsaktivisten und Bloggers Roman Protassewitsch vorerst keine offiziellen Angaben. Von seiner Partnerin Sofia Sapega fehlt ebenfalls jede Spur. Protassewitschs Vater Dmitri zeigt sich im Interview des belarussischen Radiosenders Radio Swoboda überzeugt, dass es sich um eine sorgfältige Operation «wahrscheinlich nicht nur von den Geheimdiensten von Belarus» handelte. Russland ist enger Verbündeter von Belarus.
In einem regierungsnahen Nachrichtenkanal bei Telegram wird am Montagabend ein Video von Protassewitsch verbreitet. Darin bestätigte der gezeichnete Blogger, dass er im «Untersuchungsgefängnis Nr. 1» in der Hauptstadt Minsk sei.
#Belarus Breaking. Pro-government channels published Raman #Pratasevich video address. He was forced to say he is confessing that he was “plotting riots” pic.twitter.com/vhyIs6FmWC
— Hanna Liubakova (@HannaLiubakova) May 24, 2021
Zu Berichten über einen angeblichen Spitalaufenthalt wegen Herzproblemen sagte er: «Ich kann erklären, dass ich keine gesundheitlichen Probleme habe, auch nicht mit dem Herzen und anderen Organen.» Er sei gesetzeskonform behandelt worden, er arbeite mit den Ermittlern zusammen und wolle weiter Geständnisse ablegen.
Nach Einschätzung der Opposition ist das Video unter Druck zustande gekommen. «Roman hätte nie freiwillig gesagt, was er jetzt in die Kamera gesagt hat», hiess es bei Telegram. Er sehe zudem «ziemlich gefoltert» aus.
Wie ein Sprecher von EU-Ratspräsident Charles Michel nach Beratungen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel mitteilte, sollen belarussische Fluggesellschaften künftig nicht mehr den Luftraum der EU nutzen dürfen und auch nicht mehr auf Flughäfen in der EU starten und landen dürfen. Zudem soll es zusätzliche gezielte Wirtschaftssanktionen und eine Ausweitung der Liste mit Personen und Unternehmen geben, gegen die Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gelten.
Hijacking. Air Piracy. Playing Roulette with the lives of innocent civilians.
— Charles Michel (@eucopresident) May 24, 2021
Enough.
Pratasevich and Sapega must be released.
Today EU27 leaders decided on new sanctions & other forceful measures against the #Belarus authorities. #EUCO pic.twitter.com/zzyk4FxlVH
Fluggesellschaften mit Sitz in der EU werden darüber hinaus aufgefordert, den Luftraum über Belarus zu meiden. «Der Europäische Rat verurteilt nachdrücklich die erzwungene Landung eines Ryanair-Fluges am 23. Mai 2021 in Minsk (Belarus) und die Inhaftierung des Journalisten Roman Protassewitsch und von Sofia Sapega durch die belarussischen Behörden», heisst es in einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs. Der Blogger und seine Partnerin müssten umgehend freigelassen werden. Die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation forderte der EU-Gifpfel auf, den «beispiellosen und nicht hinnehmbaren Vorfall» dringend zu untersuchen.
Wie dieses Bild auf dem Twitterkanal von Flightradar24 zeigt, werden die Sanktionen der EU bereits umgesetzt. Diverse Flüge, welche zuvor über Belarus geflogen sind, nehmen nun einen Umweg über Lettland und Russland in Kauf.
Flights by British Airways, Air France, and KLM that have previously operated through Belarus now going around. https://t.co/3318cNSEs8 pic.twitter.com/ymNWPUqzIm
— Flightradar24 (@flightradar24) May 24, 2021
Die Umleitung eines Linienflugs nach Minsk ist auch Thema innerhalb der Nato. «Die Verbündeten beraten sich über die erzwungene Landung des Ryanair-Flugzeugs durch Belarus, und die Botschafter werden morgen darüber diskutieren», hiess es am Montag aus der Nato-Zentrale. Bereits am Sonntag hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg auf Twitter von einem «schwerwiegenden und gefährlichen Vorfall» gesprochen, der internationale Untersuchungen erfordere. (saw/sda/dpa)