Es sind nicht nur die Flugbewegungen, die Hinweise liefern. Sondern auch die Augenzeugenberichte, die sich mehren. Augenzeugenberichte von jungen Syrern, die sich plötzlich an der Front in Bergkarabach wiederfinden, wo sich Aserbaidschan und Armenien seit Wochen schwere und höchst verlustreiche Gefechte liefern. Sie kämpfen im Auftrag der Türkei für Aserbaidschan. Und manche von ihnen waren eben noch in Libyen. Was ist da los?
Wer das wissen will, muss sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan auseinandersetzen. Und mit seiner wenig kaschierten Vision, die Türkei zu – gerade militärischer – Grösse zu führen. Aber sterben, das müssen die anderen für ihn. Vorzugsweise junge syrische Männer, teilweise aus den Flüchtlingslagern im Norden des Landes rekrutiert, vielfach verarmt und desillusioniert und radikalisiert. Und nach 10 Jahren bewaffneten Konflikts ohne jede Perspektive. Junge Männer, die ihr halbes Leben nichts anderes kennen als Krieg.
In Syrien war Erdogan seit Beginn des Bürgerkriegs ein einflussreicher Player. Dutzende Milizen wurden von der Türkei finanziell gestützt, ausgebildet, bewaffnet. Ihre Rolle beim Aufstieg des Islamismus in Syrien ist bis heute nicht ganz geklärt.
Sie kann aber am ehesten anhand von Namen erzählt werden: jenem von Serena Shim etwa. Oder von Can Dündar. Letzterer verantwortete als Chefredaktor die Veröffentlichung einer Recherche über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an syrische Islamisten-Gruppen. Dündar wurde juristisch verfolgt und lebt heute in Deutschland.
Shim ist tot. Die Journalistin hatte gefilmt, wie während des Sturmangriffs der Terrormiliz «Islamischer Staat» auf die kurdische Stadt Kobane im Jahr 2014 Dschihadisten über die türkische Grenze geschmuggelt worden waren und geriet ins Visier des MIT. Tage später starb sie bei einem Verkehrsunfall. Die Umstände: ungeklärt.
Seither hat Erdogan sich mehr und mehr von verdeckten Operationen im Nachbarland auf das verlagert, was er augenscheinlich verkörpern will: Er geriert sich ganz offen als Kriegsherr. Im Frühling stoppten türkische Truppen mit modernster Drohnentechnik den Vormarsch der von einer Vielzahl von Milizen aus dem halben nahen Osten und von Russland unterstützten syrischen Regierungsarmee – ihrerseits Seite an Seite mit islamistischen Gruppen.
Es sind Gruppen, zu denen die Türkei seit Jahren wenig Berührungsängste hat. Vielmehr noch: Sie dienen Erdogan als Proxyarmee für besonders schmutzige Schlachten.
Es war im Dezember 2017 ein geschickter Schachzug mit damals kaum abschätzbaren Folgen: In der Provinz Aleppo wurden die von der Türkei unterstützten Gruppen des ehemals mächtigen und von Überläufern des Assad-Regimes gegründeten Truppenverbundes «Freie Syrische Armee» (FSA) unter dem neuen Namen «Syrische Nationale Armee» (SNA) formiert.
Darunter waren jene Milizionäre, die der Türkei beim Einmarsch 2016 in Nordsyrien bei der Operation «Schutzschild Euphrat» als Handlanger dienten und Gebiete sowohl vom «IS» wie auch kurdischen Truppen eroberten. 2018 eroberten sie für Erdogan Afrin, einen der drei Kantone des kurdischen Autonomiegebietes Rojava: Operation «Olivenzweig».
Nur Tage vor dem Einmarsch in den Rest des nordsyrischen Kurdengebietes im Oktober 2019, dieses Mal ging ein Raunen durch die internationale Gemeinschaft ob möglicher Völkerrechtsbrüche, verleibte die Türkei der SNA kurzerhand auch dschihadistische Gruppen wie Ahrar al-Sham oder Nour al-Din al-Zenki ein.
Die Kämpfer, da wie dort, erfuhren davon aus den Medien. Im angelsächsischen Sprachraum hat sich für die SNA längst auch eine andere Bezeichnung durchgesetzt, sie ist vielleicht präziser: TFSA, Turkish-backed Free Syrian Army. Ein Vehikel Erdogans.
Wie sehr, zeigte sich im Libyen-Konflikt, wo ebenfalls die Waffen seit zwei Monaten ruhen. Erst gab es nur vereinzelte Berichte über den Transfer von SNA-Kämpfern in die Konfliktregion im südlichen Mittelmeer, bald aber Beweise für tägliche Charterflüge. Erdogan unterstützt die international anerkannte Einheitsregierung im Westen im Kampf gegen Kampfverbände des abtrünnigen Generals Khalifa Haftar. Beide Seiten werfen sich islamistische Gesinnung vor, beide Seiten setzen auf Söldner.
Die syrischen Söldner, erst hunderte, dann tausende, bewirkten eine Wende auf dem Schlachtfeld. Auf mindestens 5000 schätzte ihre Zahl das US-Afrika-Kommando des Pentagon (AFRICOM). Die in die Defensive geratenen Unterstützer von Tripolis gewannen die Oberhand. Dann, nach Monaten anhaltender Gefechte, kam der Waffenstillstand.
Bereits vorher aber kursierten Berichte wie dieser: Einige Söldner sollen versucht haben, über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen, um in der EU um Asyl zu bitten. Oder dieser: Entmutigt von falschen Versprechungen der türkischen Regierung oder ausbleibenden Lohnzahlungen, sei so mancher Kämpfer wieder in seine syrische Heimat gereist. Für 2000 Dollar sei man von der Türkei angeheuert worden, so die Klage, und nur einen Bruchteil davon habe man erhalten.
Als «unerfahren» beschreibt AFRICOM die Söldnertruppen, als «ungebildet» und motiviert durch Gehaltsversprechungen. Und wirft ihnen schwerste Menschenrechtsverletzungen vor. Gleichzeitig sind viele demoralisiert. Viele Mitstreiter sind gefallen. Es ist von hunderten Syrern die Rede, die in Libyen ihr Leben gaben. Ob es nicht noch mehr sind – so genau wird man das nie wissen werden. Die Lage in Libyen ist verworren.
Sagt Ibrahim zu Reportern des Spiegel. Es ist Anfang Oktober 2020 und Aserbaidschan und Armenien liefern sich in der völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region Bergkarabach die heftigsten Gefechte seit Jahren.
Ibrahim sagt, ihm habe die Türkei 1000 Dollar für den Einsatz versprochen. Er habe Frau und drei Kinder, sie lebten in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien. Er sei an vorderster Front stationiert. Die Aserbaidschaner? Weiter hinten.
Die Türkei, wichtiger Verbündeter Aserbaidschans, sagt, man habe bislang nicht in den Konflikt eingegriffen.
Der «Spiegel» sagt, rund 1000 Syrer kämpften in Bergkarabach. Dies hätten Recherchen ergeben.
Die heftigen Kämpfe halten an, der Anfang Oktober von Russland vermittelten und unter US-Aufsicht erneuerten Waffenruhe zum Trotz. Die oppositionsnahe syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sagt, bislang seien über 100 Syrer ums Leben gekommen. Das war vor über zwei Wochen.
(tat)
Da sieht man doch was unseren Politikern wichtig ist, Menschen haben gegen wirtschaftliche Interessen keine Chance.
Zudem frage ich mich, wo der Aufstand der Medien ist. Ja, wir haben Covid und den irren Donald (inkl. Wahlen), aber es müsste doch noch ein Platz zu finden sein um diesem Kapitel des Weltgeschehens den Platz zukommen zu lassen, den es verdient.
Oder will man uns, humanitären Bürgern und Politikern, einfach nicht den Spiegel vorhalten?
Mit den Männern habe ich, kein Mitleid. Sie leben seit 10 Jahren im Krieg. Das ist tragisch ja. Aber sie haben eine Seite gewählt, die den Krieg nun in andere Ecken der Welt trägt.
Peinlich sind aber wir hier. Wir feiern: Demokratie gerettet in den USA, wir lassen uns vom Terror nicht unterkriegen, retten das Klima und Lukaschenko wird sanktioniert.
Bei allem anderen wird maximal angewidert geguckt mit dem Sektglas der Dekadenz in der Hand. Zu mühsam, zu schmutzig, keine Lust...