Das Feuer im Lager Moria hat die prekäre Lage auf der griechischen Insel Lesbos in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Bekannt war sie schon lange: Viel zu viele Flüchtlinge waren unter unhaltbaren Umständen, die durch das Coronavirus noch verschlimmert wurden, in dem Camp eingepfercht.
Konkret geändert hat der Brand wenig. Einige hundert Flüchtlinge wurden von europäischen Ländern aufgenommen, vor allem von Deutschland. Für die grosse Mehrheit aber wurde auf Lesbos einfach ein neues Zeltlager gebaut, das kaum besser sein soll als Moria.
Gleichzeitig verschärft sich die Lage im südlichen Mittelmeer. Das bekommt vor allem die Insel Lampedusa zu spüren, wo ständig neue Boote anlegen. Ein grosser Teil der Migranten stammt aus Tunesien. Sie flüchten vor der schlechten Wirtschaftslage im nordafrikanischen Land. Echte Chancen auf ein Bleiberecht haben sie nicht.
Gleichzeitig haben die Rettungsschiffe nach wie vor Mühe, einen Hafen zu finden. Selbst Notrufe würden kaum noch beantwortet, klagte die deutsche Hilfsorganisation Sea-Eye, die unter anderem die «Alan Kurdi» betreibt: «In Europa sieht sich niemand mehr für diese Menschen zuständig. Sie werden den Libyern oder dem Meer ausgeliefert.»
Fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise setzt Europa nach wie vor auf Abschreckung. Mit der Türkei und Libyen wurden umstrittene Abkommen geschlossen, damit sie die Migranten zurückhalten. Der Versuch der Europäischen Union, einen Verteilschlüssel zu etablieren, scheiterte am Widerstand der Osteuropäer, vor allem Polen und Ungarn.
Nun unternimmt die EU einen neuen Anlauf für eine Asylreform. Der am Mittwoch präsentierte Vorschlag sieht eine schnellere Behandlung der Asylgesuche inklusive Rückführung in die Herkunftsländer vor. Damit sollen jene Länder entlastet werden, in denen die meisten Flüchtlinge ankommen, also vor allem Griechenland und Italien.
Diese hatten eigentlich eine Abkehr vom Dublin-System gefordert. Davon ist nun keine Rede mehr. «Es gibt keine perfekte Lösung. Es geht darum, eine ausgewogene Lösung zu finden», sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Die EU-Mitgliedsstaaten reagierten verhalten positiv, auch die ewigen Bremser in Ungarn. Kritik äusserten NGOs und Experten.
Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus, der als geistiger «Vater» des Türkei-Abkommens gilt, zweifelt daran, dass Abschiebungen «jetzt auf einmal besser werden sollen». Das Problem liege nicht in der EU, sondern bei den Herkunftsländern: «Wenn es schief geht, führt es zu enormen Problemen, wie in Moria heute.»
Die europäische Flüchtlingspolitik befindet sich in einem enormen Spannungsfeld. Das eine Extrem bilden die «Abschotter», die den Kontinent in eine Festung verwandeln wollen. Auf der anderen Seite stehen die Verfechter einer «Willkommenskultur», die Europa als sicheren Hafen für Migranten betrachten und die Türe so weit wie möglich öffnen wollen.
Es ist schwierig, hier eine Balance zu finden. Das zeigen auch die Rückblicke auf den «Ausnahmezustand» im Spätsommer und Herbst 2015 und das denkwürdige «Wir schaffen das» der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für NZZ-Chefredaktor Eric Gujer, der in Deutschland neue Leser anwerben will, hat Merkel schlicht versagt.
Rosiger sieht es «Spiegel»-Redaktor Maximilian Popp. Er versteht 2015 als einen Moment, in dem «viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland über sich hinausgewachsen sind». Er habe das Land «offener und vielfältiger gemacht». Die Wahrheit befindet sich wie meistens irgendwo zwischen Gujers Schwarzmalerei und Popps Schönfärberei.
Deutschland hat vieles «geschafft». Es gibt zahlreiche Beispiele für gelungene Integration. Aber manche Flüchtlinge sind nach fünf Jahren nicht wirklich angekommen. Stark getrübt wird das rosige Bild durch Auswüchse wie die Kölner Silvesternacht 2015 sowie islamistische und rechtsextreme Gewalttaten, die es ohne die Flüchtlingswelle kaum gegeben hätte.
Die Aufnahmebereitschaft in der deutschen Bevölkerung ist nach wie vor gross. Aber seit 2015 hat die Alternative für Deutschland (AfD) den Einzug in sämtliche Landesparlamente und den Bundestag geschafft. Mit keinem Thema kann man so zuverlässig Emotionen schüren wie mit der Flüchtlingsfrage.
Die damalige Willkommenskultur ist Geschichte, doch Deutschland ist ein Magnet für Migranten geblieben. Eine Verteilung auf die EU-Länder bleibt auf absehbare Zeit illusorisch. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, ein Hardliner in der Flüchtlingsfrage, legt im Interview mit CH Media den Finger auf einen wunden Punkt.
Das Problem bestehe darin, dass «die meisten Menschen, die teuer für einen Schlepper bezahlt haben, lieber in Österreich oder der Schweiz leben möchten. Und nicht in Rumänien oder Polen.» Und selbst Befürworter einer grosszügigen Aufnahmepolitik räumen ein, dass die Räumung des Lagers Moria eine unerwünschte Sogwirkung auslösen könnte.
Eine grosszügige Asylpolitik, die Europa nicht zerreisst, ist letztlich kaum realisierbar. Die Quadratur des Kreises ist im Vergleich ein Kinderspiel. Die neue EU-Asylreform ist alles andere als eine ideale Lösung. Sie ist ein typisches Beispiel für Realpolitik, so unschön und tragisch sie für die Betroffenen in Moria oder Lampedusa auch sein mag.
Aber Schiffe von privaten Hilfsorganisationen, welche wenige Kilometer vor den Küsten Libyens und Tunesiens kreuzen und Migranten dann 250 KM ans europäische Festland bringen, sollen keine Sogwirkung auslösen?
Jä genau.
Europa ist, so hart es klingt, für die meisten nun mal nicht zuständig. Was kann es dafür, dass z.B. in Tunesien die Wirtschaft nicht läuft?
Das Problem liegt darin, dass für ein faktisches Bleiberecht oft kein Asylgrund erforderlich ist. Das System ist unverständlich. Und daran tragen die "Willkommenskultur" und die Rettungsschiffe keine unwesentliche Mitschuld.
An den Aussengrenzen Lager einzurichten und die Leute von dort aus i.d.R. gar nicht weiter zu verteilen, ist jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung.
Es dünkt mich mittlerweile mehr ein Konflikt, Deutschland vs Rest-EU und wir Deutschschweizer halten uns in der Berichterstattung an die deutschen Medien....
Ich glaube, in vielen EU-Ländern ist dieses Thema nicht jeden Tag Schlagzeilen wert und interessiert einfach nicht. Selbst die Schweden propagieren irgendwie keine allzugrosse Offenheit mehr, wenn mich nicht alles täuscht.
Gerne bitte ich um Richtigstellung, falls mich diese Eindrücke täuschen.