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Endlich! Im Unterhaus hat sich eine Mehrheit für etwas gefunden. Die beschlossene Neuwahl wird hoffentlich auch den Brexit entscheiden. Der Preis dafür ist aber hoch.
Boris Johnson hat sie endlich bekommen: Im nunmehr vierten Anlauf beschloss das britische Unterhaus am Dienstag eine vorgezogene Neuwahl am 12. Dezember. Endlich eine Entscheidung FÜR etwas, mag man den britischen Abgeordneten da zurufen.
So willkommen das Votum auch ist, gelöst ist damit aber nichts. Im Gegenteil: Der nun beginnende Wahlkampf wird eine erneut harte und unerbittliche Auseinandersetzung über den Brexit. Und selten zuvor war es so schwierig, den Ausgang zu prognostizieren.
Der britische Premierminister befindet sich in einer für ihn misslichen Lage. Johnson hat sein Versprechen gebrochen, den Brexit am 31. Oktober zu liefern, komme, was da wolle («do or die»). Im Wahlkampf ist er nun eingeklemmt zwischen Nigel Farages Brexit-Partei auf der einen und Labour und den Liberaldemokraten auf der anderen Seite.
Um die Wahl zu gewinnen und seinen sehr harten Brexit umzusetzen, muss er den grössten Teil der Befürworter eines EU-Austritts hinter sich versammeln. Mit einem Kurs der Mitte und des Ausgleichs ist das nur schwerlich möglich. Zu sehr haben sich die Brexit-Anhänger (und auch Teile des Remain-Lagers) in den vergangenen dreieinhalb Jahren radikalisiert.
Die Fähigkeit zum Kompromiss, einem wichtigen Scharnier in einer funktionierenden Demokratie, ist in Grossbritannien durch den Brexit verloren gegangen. Neben den langfristigen ökonomischen Konsequenzen eines Brexits, ist das wohl die wohl schlimmste Folge schier endloser Debatten im Unterhaus.
Boris Johnson wird deshalb einen äusserst populistischen Wahlkampf führen. Immer wieder hat er bereits in den vergangenen Wochen betont, es handele sich um eine Wahl «Volk gegen Parlament» («people vs parliament»). Das Volk, das den Brexit endlich umgesetzt sehen will und von Johnson vertreten wird, gegen das elitäre Parlament, das ihn immer wieder verhindert.
Alle diejenigen werden Johnson zujubeln, die sich von der Elite des Landes verraten fühlen und ohnehin nicht mehr an die demokratischen Institutionen glauben. Aber er vereinigt auch all jene wohlhabenden Konservativen hinter sich, die sich um die sozialen und ökonomischen Folgen des Brexits nicht scheren (müssen). Wie schmutzig solche Kampagnen werden können, hat das Referendum von 2016 gezeigt. Der damalige Chef von Vote Leave, Dominic Cummings, ist heute der wichtigste Berater von Boris Johnson.
Johnson spielt zudem in die Hände, dass Oppositionsführer Jeremy Corbyn in der Bevölkerung nicht sehr beliebt ist. Corbyn hat sich keinen Gefallen damit getan, in der Brexit-Frage im Ungefähren zu verharren. Sollte er die Wahl gewinnen, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, was dann mit dem Brexit passiert. Kommt dann doch ein zweites Referendum? Nur so kann er sich eine Chance auf einen Wahlsieg erhalten.
Jeremy Corbyn Bild: EPA
Momentan liegen die britischen Konservativen deutlich vor Labour. Aber gewonnen hat Johnson längst noch nicht. Seine Vorgängerin Theresa May hatte 2017 mit einem ähnlichen Vorsprung Neuwahlen durchgesetzt, verlor aber am Ende die Mehrheit im Parlament. Eine aktuelle Studie zeigt auf, wie unsicher die Wahlumfragen angesichts der grossen politischen Krise des Landes sind: Demnach stimmen in den vergangenen drei Wahlen knapp 50 Prozent der Wahlberechtigten für jeweils unterschiedliche Parteien.
«Der Brexit wird wahrscheinlich eine Schlüsselrolle in der nächsten Wahl spielen, aber es ist noch nicht klar, wer davon profitieren wird», schreiben die Autoren. Vielleicht ist das eine weitere wichtige Erkenntnis aus mehr als drei Jahren Brexit: Nicht nur die Spaltung, sondern auch die Verunsicherung in der Bevölkerung hat erheblich zugenommen.
Was den Briten und der restlichen EU – auch deshalb – in keinem Fall zu wünschen ist, egal ob man den Brexit befürwortet oder nicht: ein erneutes Patt im Parlament. Dann vielleicht doch lieber ein Sieg des Populisten Boris Johnson und ein harter Austritt aus der EU. Denn auch Johnson wird nicht umhinkommen, sich mit den sozialen und gesellschaftlichen Folgen des EU-Austritts auseinanderzusetzen. Das ist der hohe Preis seines Brexits.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.