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Krieg im Kaukasus: Erdogan legt Feuer in Putins Vorgarten

epa08704011 A still image taken from a handout video footage published 28 September 2020 on the official website or the Azerbaijan's Defence Ministry shows allegedly Azerbaijan's artillery f ...
Eine aserbaidschanische Artillerie-Batterie nimmt eine armenische Stellung unter Beschuss. Bild: keystone
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Krieg im Kaukasus: Erdogan legt Feuer in Putins Vorgarten

Die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan werden heftiger, es gibt immer mehr Tote. Die Türkei unterstützt den Krieg – zum Ärger Russlands. Was wollen Putin und Erdogan in der Region?
29.09.2020, 07:4829.09.2020, 08:50
patrick diekmann, david ruch / t-online.de
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Panzer brennen, Raketenwerfer und Kampfflugzeuge feuern massenhaft Geschosse auf den militärischen Feind, tote Soldaten liegen regungslos in den Schützengräben der Grenzregion. Diese Bilder aus dem eskalierenden Konflikt in Berg-Karabach werden von Armenien und Aserbaidschan schonungslos über Fernsehen und Internet verbreitet. Es ist einerseits Kriegspropaganda der verfeindeten Länder, doch andererseits und vor allem dokumentieren die Videos eines: Das Grauen des Krieges.

Der Konflikt um Berg-Karabach, der Anfang der 90er Jahre in einen blutigen Krieg mündete, flammt nun so heftig auf wie lange nicht mehr. Seit Sonntag gab es mehr als 60 Tote und Hunderte Verletzte. In beiden Staaten wurde der Kriegszustand verhängt. Eine Lösung scheint nicht in Sicht, das Vertrauen zwischen den Konfliktparteien ist komplett zerstört. Doch kommt es erneut zum Krieg, drohen sich auch Konflikte zwischen den Regionalmächten zu verschärfen.

Karte des Konflikts: Bergkarabach (braun), armenisch besetztes Gebiet Aserbaidschans (orange).
Karte des Konflikts: Bergkarabach (braun), armenisch besetztes Gebiet Aserbaidschans (orange).bild: Furfur/wikimedia/CC BY-SA 4.0,

Da ist zum Einen die Türkei, die sich als Schutzmacht Aserbaidschans sieht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt die Offensive gegen Armenien. Und da ist zum Anderen Wladimir Putins Russland, das Armenien unterstützt und aus eigenen sicherheitspolitischen Interessen einen Krieg verhindern muss.

Ohne Rückendeckung ihrer Schutzmächte würde weder Aserbaidschan noch Armenien eine militärische Offensive starten. Mit seiner Unterstützung für Aserbaidschan hat Erdogan deshalb ein Feuer im Vorgarten von Putin gelegt. Er riskiert damit eine dramatische Verschlechterung der Beziehungen mit Moskau.

Die Region sah viele Herrscher

Um die komplexen Zusammenhänge des Konflikts zu verstehen, lohnt zunächst ein Blick in die Geschichte. Berg-Karabach sah seit der Spätantike viele Herrscher. Einst kontrollierten die Mongolen das Gebiet, später die Perser, dann zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Russen. Stets war die Region dabei ethnisch durchmischt. Muslimische Turkvölker, Araber, Kurden, aber auch christliche Armenier lebten hier.

Doch mehrere grosse Einwanderungswellen verschoben das gesellschaftliche Gefüge. Nach dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich und ihrer damit einhergehenden Flucht wuchs ihr Anteil an der Bevölkerung von Berg-Karabach auf über 80 Prozent an.

Armenian soldiers take their position on the front line in Tavush region, Armenia, Tuesday, July 14, 2020. Skirmishes on the volatile Armenia-Azerbaijan border escalated Tuesday, marking the most seri ...
Armenische Soldaten (Archivbild): Um die zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittene Region Berg-Karabach gibt es erneute Gewalt.Bild: keystone

Die Spannungen nahmen zu, auch weil die in dem Gebiet lebenden Aserbaidschaner sich der Türkei verbunden fühlten. Es kam zu blutigen Pogromen mit Tausenden Toten. Mit dem Zerfall des Zarenreiches am Ende des Ersten Weltkrieges erhoben Armenier wie Aserbaidschaner Anspruch auf das Gebiet: Armenien verwies auf den grossen Anteil der Armenier an der Bevölkerung, Aserbaidschan auf die Unverrückbarkeit der Grenzen und die traditionellen Weidegrunde muslimischer Nomaden.

Nach der Ausrufung von Sowjetrepubliken in Armenien und Aserbaidschan erklärte Berg-Karabach sich freiwillig zugehörig zu Aserbaidschan – ein Zugeständnis an die Türkei, mit der Moskau zuvor einen Friedensvertrag geschlossen hatte. Zugleich erhielt das Gebiet Autonomiestatus. Bis 1989 blieb dieser Zustand unangetastet.

Den Pogromen folgte der Krieg

Als Mitte der 80er Jahre die Macht der Sowjetunion zu zerbröseln begann, brachen alte Gräben wieder auf und nationalistische Bewegungen erwuchsen. Die über Jahrzehnte von der Zentralmacht in Moskau benachteiligten Aserbaidschaner verübten Pogrome an den in der Teilrepublik lebenden Armeniern.

Aus Berg-Karabach wiederum wurden Tausende Aserbaidschaner von Armeniern vertrieben. Nachdem Nationalisten in Aserbaidschan versuchten, die Macht an sich zu reissen, rollten am 20. Januar 1990 russische Panzer ein, begleitet von 160'000 Soldaten, und besetzten die Hauptstadt Baku.

In this photo provided by the Azerbaijan's Presidential Press Office provided on Sunday, Sept. 27, 2020, Azerbaijani President Ilham Aliyev gestures as he addresses the nation in Baku, Azerbaijan ...
Ilham Alijew, Präsident der Republik Aserbaidschan, hält eine Rede an die Nation. Armenien hat nach Kämpfen mit dem Nachbarland Aserbaidschan in der Konfliktregion Berg-Karabach den Kriegszustand ausgerufen.Bild: keystone

Weder der Einmarsch der Roten Armee noch die Unabhängigkeit Armeniens und Aserbaidschans ein Jahr später befriedeten den Konflikt – im Gegenteil. Weitere Pogrome mit Dutzenden Toten liessen den Konflikt 1992 vollends eskalieren. Zwei Jahre Krieg forderten mehr als 25'000 Tote, zwangen über eine Million zur Flucht. 1994 wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der bis heute gilt, doch immer wieder verletzt wurde.

Im Fokus vieler Regionalmächte

Völkerrechtlich ist die Sache klar: Berg-Karabach gehört zu Aserbaidschan, weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Union erkennen das seit 2017 Republik Arzach genannte Territorium als unabhängig an. De-facto allerdings wird es seit 1994 selbständig regiert. Neben dem ungelösten Grenzkonflikt sorgten nun weitere Faktoren dafür, dass der alte Streit die Region in einen neuen Krieg stürzen könnte.

Da ist die strategische Lage mit dem nach geopolitischer Macht strebenden Russland im Norden, der ambitionierten Türkei im Westen, dem Iran im Süden. Da sind aber auch die Erdöl- und -gasvorkommen in der Region, die die Aufmerksamkeit der Regionalmächte wecken, deren Ausbeutung ein neuerlicher Krieg allerdings in Gefahr bringen könnte.

Das Interesse an einer weiteren Eskalation dürfte sich somit in Grenzen halten, das russische allemal. Ein neuer Krisenherd so nah an der Grenze bedroht direkt russische Sicherheitsinteressen. Der Nordkaukasus gilt als Achillesferse Russlands. Für den Kreml war es immer schwer, diesen Teil des russischen Staatsgebietes unter Kontrolle zu bringen. Das muslimisch-geprägte Tschetschenien wurde zur Keimzelle für den islamistischen Terrorismus und es gibt ernsthafte Armuts- und Strukturprobleme. Auch die Terrormiliz IS konnte zu ihrer Hochzeit in der Region Fuss fassen.

Putin will Frieden

Es fordert Russland viel Kraft und Geld ab, den Nordkaukasus zu befrieden. Die Einsätze in Syrien und Libyen dienen auch dem Zweck, islamistische Gruppierungen im eigenen Land zu schwächen. Ein weiterer Punkt ist die geopolitische Einflussnahme in der Region – auch in Armenien. Der Kreml kann den aktuellen Konflikt im Kaukasus nicht eskalieren lassen, damit sich der Brand nicht auf das eigene Staatsgebiet ausbreitet. Spannungen zwischen ethnisch-religösen Gruppen gibt es etwa in den russischen Teilrepubliken Dagestan und Nordossetien-Alanien.

Für den Notfall unterhält Russland in Armenien einen Luftwaffenstützpunkt und Moskau wird seinen Sicherheitsversprechen für das Land nachkommen, auch um sein Gesicht nicht zu verlieren. Erste Berichte über russische Kampfjets in der Region gibt es schon. Letztlich aber dürfte ein militärischer Sieg über Aserbaidschan kaum das Ziel Moskaus sein, sondern eher ein Frieden.

Türkei treibt sich selbst in die Enge

Dass Berg-Karabach in diesen Tagen die schwersten Gefechte seit Jahren erlebt, dürfte Putin deshalb umso mehr verärgern. Und dass noch dazu die Türkei sofort Partei ergriff für Aserbaidschan und schwere Vorwürfe in Richtung Armenien erhob. Wer letztlich den ersten Schuss abgab, lässt sich aktuell nur schwierig nachzeichnen. Beide Seiten geben sich die Schuld. Mit der eiligen Positionierung verliert die Türkei gleichwohl immer mehr Verbündete und stellt das eigentlich gute Verhältnis zu Russland nach den Spannungen in Libyen nun ein weiteres Mal auf die Probe.

Dabei hätte die Türkei nach dem Völkermord an den Armeniern eigentlich eine gewisse Sorgfaltspflicht gegenüber dem kleinen Nachbarland. Trotz unterschiedlicher Religionen sind Türken und Armenier kulturell eng verbunden, lange lebten sie in einem Land. In türkischen Grossstädten wie Istanbul ist die armenische Architektur noch gut sichtbar. Aber das die Armenier in eine Wüste vertrieben und zu Zehntausenden ermordet wurden, lernen Kinder nicht in der Schule. Sie wurden umgesiedelt, heisst es. Rückfragen sind nicht erlaubt.

Meist verhinderte die Politik der Türkei eine Aussöhnung mit dem schrecklichen geschichtlichen Erbe. Erdogan träumt von einem neoosmanischen Reich, die momentane türkische Regierung sieht den Mittelmeerraum als ihr Einflussgebiert. Der Nationalismus ist im Land stark ausgeprägt und viele nationalistische Bewegungen in der Türkei sehen Aserbaidschan als muslimischen Bruder und Armenien als türkisches Staatsgebiet, das besetzt wurde. Erdogan sieht das ähnlich: «Wenn Armenien sofort das Gebiet verlässt, das es besetzt, dann wird die Region zu Frieden und Harmonie zurückkehren», sagte er am Montag.

Die offiziellen Gründe der Türkei für die Unterstützung des Krieges sind klar: Einerseits Einerseits sieht Erdogan als Rückzugsort der kurdischen Miliz PKK, andererseits besteht er darauf, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Doch wie auch andere Mächte zieht der türkische Präsident das Völkerrecht heran, wenn es seinen Interessen dient. Auf Zypern und im Mittelmeer-Konflikt wird es von der Türkei ignoriert.

Turkey's President Recep Tayyip Erdogan, right and Russian President Vladimir Putin, left, look at each other during a news conference following their meeting in Istanbul, Monday, Oct. 10, 2016.  ...
Die Türkei und Russland wollen ihren Einfluss in der Region sichern: Es geht aber auch um sicherheitspolitische Interessen.Bild: AP/AP

Es gab zwar eine Annäherung beider Länder, aber die gegenwärtige türkische Politik hat kein Interesse daran, dass Armenien wirtschaftlich erfolgreich wird. Die Grenzen sind dicht, ausgenommen davon sind Armenier, die für geringe Löhne in der Türkei als Gastarbeiter arbeiten.

Religion als vorgeschobenes Argument

Im Kaukasus-Konflikt stand Ankara stets hinter Aserbaidschan, so auch jetzt. «Das türkische Volk wird unsere aserbaidschanischen Brüder wie immer mit allen Mitteln unterstützen», erklärte Erdogan im aktuellen Konflikt. Der türkische Präsident hat wenig Probleme, dieses Vorgehen innenpolitisch zu verkaufen. Neben der nationalistischen Komponente befeuert seine islamisch-konservative AKP auch einen religiösen Konflikt zwischen Islam und Christentum. Dabei ist die Religion allenfalls vorgeschoben – als Legitimation und Motivation für einen Krieg.

Erdogan geht es dabei vor allem um Macht und Einfluss. Wie in Syrien, in Libyen und im Streit um Erdgasvorkommen im Mittelmeer möchte er mit am Verhandlungstisch sitzen. Sein Problem: Die Türkei kämpft gerade an vielen Fronten. Wahrscheinlich an zu vielen. Wirtschaftlich kann sie sich das längst nicht mehr leisten. Am Montag stürzte die Lira auf ein neues Allzeittief.

Erdogans gefährliches Spiel

Militärisch wird der Konflikt um Berg-Karabach kaum zu lösen sein. Das muss auch Erdogan begreifen, ehe er Russland zu einer militärischen Intervention zwingt. Die Türkei hat Einfluss auf Aserbaidschan und die Unterstützung des Angriffs auf Armenien führt zu keiner Lösung.

Im Gegenteil: Die Türkei verprellt damit weiter andere Verbündete und schadet sich wirtschaftlich enorm. Ankara und Moskau haben die Möglichkeit, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu zwingen. Bis sie das tun, werden Dörfer zerstört und Menschen getötet. Das ist tragisch, denn durch das Kräftegleichgewicht in der Region ist jedes verlorene Menschenleben letztlich sinnlos.

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74 Kommentare
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maylander
29.09.2020 08:09registriert September 2018
Schon in Lybien uns Syrien unterstützen die Türkei und Russland verfeindeten Vasallen.

Die Türkei hat zudem noch Konflikte mit Zypern und Griechenland.

Zudem läuft es wirtschaftlich sehr schlecht. Ohne gesicherte Einkünfte haben auch die Türken keine Lust auf ein neues Osmanischen Reich.

Erdogans Kartenhaus wird bald in sich zusammenfallen. Massiver Kollateralschaden inbegriffen.
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Firefly
29.09.2020 09:03registriert April 2016
"Erdogan legt Feuer in Putins Vorgarten"

Erdogan zündelt rundherum mit zum teil fatalen Folgen.

Was sagt die NATO dazu?
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Oneiroi
29.09.2020 08:24registriert Juli 2020
Erdogans Niedergang ist bereits besiegelt und im Gange. Die Umfragewerte für RTE im Land haben einen noch nie da gewesenen Tiefpunkt erreicht. Die grosse Mehrheit des Volkes wendet sich von ihm ab und hat genug! Sehnt sich nach Wohlfahrt und Wohlstand. Dies ist nur mit einer gesunderen Aussenpolitik zu erreichen, was Erdogan in den letzten Jahren mit den Füssen getreten hat. Erdogan hat ein Ablaufdatum, jedoch die Türkei nicht. Weswegen wir die Opposition nie aufgeben dürfen!
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