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Analyse

Warum den USA ein politisches Erdbeben bevorsteht

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Ruft seine Anhänger auf, «wild» zu sein: Donald Trump.Bild: sda
Analyse

Warum den USA ein politisches Erdbeben bevorsteht

Die Nachwahlen in Georgia und die Auszählung der Elektorenstimmen werden das Schicksal der Vereinigten Staaten in den kommenden Jahren prägen.
03.01.2021, 17:01
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Nach der Russischen Revolution hat der amerikanische Journalist John Reed ein berühmtes Buch mit dem Titel «Zehn Tage, die die Welt erschütterten» geschrieben. Darin schildert er detailliert, wie die Bolschewiken und Lenin die Macht an sich gerissen haben.

Eine Revolution ist in den kommenden Tagen in den USA nicht zu erwarten. Doch ein politisches Erdbeben ist möglich, ja gar wahrscheinlich geworden. Was sich in den nächsten Tagen in Atlanta und Washington abspielen wird, könnte für die Vereinigten Staaten und die Welt von grosser Bedeutung sein. Aber der Reihe nach:

Am kommenden Dienstag werden im Bundesstaat Georgia gleich zwei Senatoren gewählt. Dabei handelt es sich in doppelter Hinsicht um eine Laune des Zufalls: Kelly Loeffler, eine der beiden Senatoren, muss sich bestätigen, denn sie wurde nicht gewählt, sondern vom Gouverneur provisorisch ernannt. Der zweite Senator, David Perdue, muss regulär wiedergewählt werden.

Sen. Kelly Loeffler, R-Ga., left, stands with Sen. David Perdue, R-Ga., and Ivanka Trump, Assistant to the President, during a campaign rally, Monday, Dec. 21, 2020, in Milton, Ga. (AP Photo/John Baze ...
Kelly Loeffler, David Perdue und Ivanka Trump an einer Wahlveranstaltung.Bild: keystone

Weil in Georgia das Majorzprinzip gilt und beide die absolute Mehrheit verfehlt haben, ist ein zweiter Wahlgang nötig geworden.

Sowohl Kelly wie auch Perdue sind nicht nur Republikaner, sondern auch eingeschworene Trump-Fans. Das ist nicht zwingend ein Vorteil für sie, denn Trump bezeichnet die Wahlen vom 3. November in Georgia nach wie vor als gefälscht. Kelly und Perdue befinden sich daher in einer Zwickmühle. Sie müssen loyal sein zu Trump, dürfen aber auch den republikanischen Gouverneur Brian Kemp – er hat die Wahlen für rechtmässig erklärt – nicht vor den Kopf stossen.

Von dieser Situation profitieren wollen die beiden demokratischen Herausforderer Jon Ossof und Raphael Warnock. Sie hoffen, dass die frustrierten Trump-Wähler zuhause bleiben und ihnen so zum Sieg verhelfen werden. Die Hoffnungen sind berechtigt. Alle Umfragen deuten auf ein sehr enges Rennen hin.

Ein Sieg von Ossof und Warnock hätte eine Wirkung, die weit über den Bundesstaat Georgia hinausgeht. Er würde die Mehrheitsverhältnisse im Senat ändern. Beide Parteien hätten dann je 50 Sitze, doch bei einem Patt würde die Stimme der Vize-Präsidentin Kamala Harris den Ausschlag geben.

FILE - In this Dec. 30, 2020, file photo Senate Majority Leader Mitch McConnell of Ky., walks to the Senate floor on Capitol Hill in Washington. (AP Photo/Susan Walsh, File)
Mitch McConnell
Verliert er sein Amt als Mehrheitsführer im Senat? Mitch McConnell.Bild: keystone

Vor allem jedoch würde Mitch McConnell seine Position als Mehrheitsführer verlieren. Er könnte dann nicht mehr wie bisher alle ihm missliebigen Vorlagen gar nicht erst zur Abstimmung bringen. Präsident Biden würde so eine entscheidende Hürde aus dem Weg geräumt, und er könnte sehr viel souveräner sein Programm verwirklichen.

Eine Niederlage von Kelly und Perdue würde zudem Öl auf einen schon schwelenden Brand innerhalb der Grand Old Party (GOP) giessen. Trump müsste einen Teil der Niederlage auf seine Kappe nehmen, da er mit seinem trotzigen Verhalten die republikanischen Wähler verunsichert hat.

Das würde seine Position und die seiner Anhänger schwächen und die zu erwartenden Richtungskämpfe innerhalb der GOP verstärken. Selbst eine Abspaltung des gemässigten Flügels wäre nicht mehr undenkbar.

Schon tags darauf könnte der Streit innerhalb der GOP offen ausbrechen. Dann nämlich muss der Kongress die Elektorenstimmen offiziell bestätigen und damit Joe Biden definitiv zum Präsidenten erküren. Obwohl er mehr als 50 Mal vor den verschiedensten Gerichten verloren hat, hofft Trump immer noch, dies verhindern zu können.

Der letzte Akt in dieser endlosen Schmierenkomödie sieht wie folgt aus: Republikanische Abgeordnete und Senatoren fechten die Elektorenstimmen einzelner Bundesstaaten an. Dann müssen die beiden Kammern getrennt zwei Stunden darüber diskutieren und danach abstimmen.

Vice President Mike Pence speaks at a ceremony to commemorate the first birthday of the U.S. Space Force at the Eisenhower Executive Office Building on the White House complex�??, Friday, Dec. 18, 202 ...
In der Zwickmühle: Mike Pence.Bild: keystone

Es besteht keine Chance, dass Trump mit diesem Manöver wiedergewählt wird. Gemässigte Republikaner und selbst die ihm sonst so wohlwollend ergebene Murdock-Presse raten dem Präsidenten ab. «Stop this Insanity», (Hört mit diesem Wahnsinn auf) titelte die «New York Post». «Trump’s Embarrasing Electoral College Hustle» (Trumps peinliches Elektoren-Gezwänge) doppelte das «Wall Street Journal» nach.

Vergeblich. Es ist mehr als Trumps grenzenloser Narzissmus, der hinter diesem absurden Manöver steht. Es ist auch Kalkül. Jeder Republikaner muss namentlich erklären, ob er für oder gegen Trump ist. Wer gegen Trump stimmt, muss damit rechnen, von der Basis zum «Verräter» erklärt und bei den kommenden Ausscheidungswahlen innerhalb der GOP abgewählt zu werden.

Besonders in die Bredouille wird Vize Mike Pence geraten. Er muss als Schiedsrichter die Entscheidung der Elektoren absegnen und Biden zum Präsidenten erklären.

Trump heizt die Stimmung mit diesem Video an.Video: YouTube/Donald J Trump

Louie Gohmert, ein republikanischer Abgeordneter aus Texas, stellte deshalb den Antrag, dass Pence eigenmächtig Elektorenstimmen für ungültig erklären kann. Das hat ein konservativer Richter bereits abgeschmettert. Doch das Dilemma des Vizes ist damit nicht aus der Welt geschafft.

Deshalb hat Pence einem Vorschlag einer Gruppe von republikanischen Senatoren unter der Leitung von Ted Cruz zugestimmt. Dieser Vorschlag verlangt, dass noch vor der Amtsübergabe am 20. Januar eine parlamentarische Kommission die Vorwürfe der angeblichen Wahlfälschungen abklärt.

Auch dieser Vorschlag hat Null Chancen, Bidens Wahl zu verhindern. Trump setzt daher in letzter Instanz auf seine ausserparlamentarische Opposition. Mindestens vier Organisationen haben für den Mittwoch zu Demonstrationen aufgerufen, darunter auch die Proud Boys, die für gewalttätige Aktionen berüchtigt sind.

Trump hat diese Gruppen aktiv aufgefordert, für Krawall zu sorgen. «WIR SEHEN UNS AM 6. JANUAR», tweetete er und liess dabei keine Zweifel offen: «Be there, will be wild».

Trump supporters parade along the Rose Parade route on Colorado Blvd in Pasadena, Calif., on Friday, Jan. 1, 2021. (Keith Birmingham/The Orange County Register via AP)
Wie friedlich werden sie bleiben? Trump-Anhänger bei einer Demonstration in Pasadena (Kalifornien).Bild: keystone

In Washington geht gar die Befürchtung um, Trump wolle bewusst ein Chaos provozieren, das es ihm erlauben würde, den Notstand auszurufen und so eine Amtsübergabe zu verhindern. Besorgt fragt sich daher Colbert King in der «Washington Post»:

«Trump ruft seine Anhänger nicht zu einem Sportereignis nach Washington. Oder um den Kongress nervös zu machen. Oder um die News zu kontrollieren. Trump will die Wahlen über den Haufen werfen und am 20. Januar wieder zum Präsidenten erkoren werden.»

Sollte King Recht behalten, wird es zu einer Neuauflage von John Reeds Buch kommen – rund hundert Jahre später und mit amerikanischen Akteuren.

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82 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Phüdlibürger
03.01.2021 17:36registriert August 2020
Ich will nicht schadenfreudig sein aber sollten sich die Demokraten in Georgia durchsetzen, werde ich das gebührend feiern.
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crik
03.01.2021 17:27registriert Dezember 2016
Trump wird den Notstand ausrufen und so die Wahl am 3. November verhindern.

Trump wird in den Tagen nach der Wahl Krawalle steuern und so die Auszählung verhindern.

Trump wird in republikanischen Bundesstaaten dafür sorgen, dass das Resultat nicht anerkannt wird und die Parlamente die Wahlmänner bestimmen.

Trump wird die Wahlmänner bestechen, um für ihn zu stimmen

Trump wird am 6. Januar für Tumulte in den Strassen Washingtons sorgen.

+++

Die Schweizer Medien sind besessen von diesen Theorien. Auch diesmal wird ausser ein bisschen Theater im Kongress nichts passieren.
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[CH-Bürger]
03.01.2021 17:18registriert August 2018
Trump hat Gewalt gesät - und hofft, dass er "Krieg" ernten wird!
wer dies bezweifelt, ist äusserst gutgläubig. In Donnie's Welt gibt es kein Zurückkrebsen. Keine Rücksicht. Keine Entschuldigung. Keine Einsicht.
In dem Chaos, das er sich erhofft, will er erneut den starken Mann markieren und mit harter Hand durchgreifen. Und in der ganzen Verwirrung irgendwas von Ausnahmezustand, Bürgerkrieg, Nationalguard, etc schwafeln.

Ich hoffe es nicht, aber ich befürchte schlimmes...
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