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Unruhen in Belarus: Warum Lukaschenko dieses Mal zittern muss

Belarusian President Alexander Lukashenko wipes his face as he addresses his supporters gathered at Independent Square of Minsk, Belarus, Sunday, Aug. 16, 2020. Thousands of people have gathered in a  ...
Bild: keystone
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Warum Lukaschenko dieses Mal wirklich zittern muss

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko konnte bislang alle Proteste aussitzen. Jetzt aber wird es brenzlig für ihn, denn immer mehr Profiteure seines Regimes wechseln die Seite.
17.08.2020, 16:5718.08.2020, 11:44
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Das Schicksal eines Autokraten ist schwer vorhersehbar. Eben noch scheint er fest im Sattel zu sitzen. Dann kann er sich auf einmal nur noch mit Mühe oben halten, weil sein Pferd auszuschlagen beginnt. Genau diese Erfahrung macht Alexander Lukaschenko, seit 1994 Präsident von Belarus, der oft als «letzter Diktator Europas» bezeichnet wird.

Am vorletzten Sonntag wollte der 65-Jährige sich für eine weitere Amtsperiode «wählen» lassen. Dabei überliess er scheinbar nichts dem Zufall. Alle ernsthaften Kandidaten der Opposition wurden im Vorfeld ausgeschaltet. Am Ende trat die Ehefrau eines inhaftierten Bloggers gegen Lukaschenko an, die sich in dieser Rolle sichtlich unwohl fühlte.

Blutige Ausschreitungen – Oppositionelle verlässt das Land

Video: watson

Dennoch deutet einiges darauf hin, dass Swetlana Tichanowskaja die Wahl gewonnen hätte, wenn Lukaschenko das Ergebnis nicht auf dreiste Art hätte fälschen lassen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, und schon früher hatte es Proteste gegeben, die bald verpufften. Das belarussische Volk war zum Aufstand gegen den Diktator nicht bereit.

Staatsfernsehen: Lukaschenko will Verfassungsänderung für Neuwahlen
Alexander Lukaschenko hat nach den Massenprotesten Verfassungsänderungen vorgeschlagen, die zu Neuwahlen führen könnten. «Wir brauchen eine neue Verfassung», sagte Lukaschenko dem belarussischen Staatsfernsehen zufolge, das einen entsprechenden Ausschnitt am Montag zeigte.

«Dazu müssen wir aber ein Referendum abhalten.» Erst mit einer neuen Verfassung könnte es, falls gewünscht, neue Abstimmungen für den Posten des Präsidenten, des Parlaments und andere wichtige Ämter geben.
Bislang hatte sich Lukaschenko strikt gegen Neuwahlen ausgesprochen. Er sei bereit, einen Kompromiss zu finden, aber nicht unter dem Druck von Protesten.

Opposition mobilisiert die Massen

Nun ist alles anders. Alexander Lukaschenko ist mit einer Protestwelle ungeahnten Ausmasses konfrontiert. Am Sonntag suchte er mit einer Rede vor rund 10'000 Anhängern, die aus dem ganzen Land in die Hauptstadt Minsk gekarrt wurden, den Befreiungsschlag. Die Opposition aber mobilisierte Hunderttausende, nicht nur in Minsk, sondern überall.

Einiges deutet darauf hin, dass es für den Machthaber wirklich eng werden könnte. So sieht es etwa die britisch-ukrainische Politologin Olga Onuch von der Universität Manchester. Sie ist Expertin für politische Mobilisierung und erkennt klare Hinweise, dass die Grosskundgebungen in Belarus sich zu einer Massenmobilisierung entwickeln.

Das entscheidende Element für einen erfolgreichen Umsturz sei die Bildung einer «Cross cleavage coalition», schrieb Onuch auf Twitter. Bisherige Profiteure und Unterstützer des Regimes überwinden demnach den Graben zur Opposition und verbünden sich mit ihr gegen den Diktator. Das zeigt sich in Belarus in verschiedenen Bereichen:

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Vor der Lastwagenfabrik demonstrierten Angestellte gegen den Präsidenten.Bild: keystone
  • In zahlreichen staatlichen Firmen ist die Belegschaft in den Streik getreten. Diese Entwicklung gilt als besonders gefährlich für Alexander Lukaschenko. Am Montag besuchte er die Lastwagenfabrik MZKT in Minsk, um das Personal auf seine Seite zu ziehen. Es ging so richtig daneben. Die Arbeiter buhten den Staatschef aus und riefen: «Verschwinde!».
  • Angestellte des Staates wenden sich ebenfalls gegen ihren Arbeitgeber. Einzelne Diplomaten haben dem Präsidenten die Gefolgschaft aufgekündigt. Auch die Belegschaft der Spitäler protestiert gegen Lukaschenkos legeren Umgang mit der Corona-Pandemie und gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Protestierende.
  • Allerdings haben auch Polizisten begonnen, sich mit der Opposition zu verbrüdern, darunter sogar Angehörige der berüchtigten Sondereinheit Omon. «Diese Überläufe mögen symbolisch sein, aber sie inspirieren und geben Kraft», meint die Politologin Olga Onuch. Das gelte nicht zuletzt für jene, die ansonsten in solchen Fällen lieber zu Hause blieben.
  • Symbolträchtig ist auch das Verhalten des Staatsfernsehens. Dieses ist der bevorzugte Propagandakanal aller Diktatoren, doch in Belarus haben sich hunderte Mitarbeiter den Protesten angeschlossen. Am Sonntag weigerten sie sich, die Rede von Lukaschenko zu übertragen – ein unglaublicher Fall von Ungehorsam.

Als wesentlicher Faktor für die Entwicklung in Belarus gilt die Polizeigewalt von letzter Woche. Die Misshandlung und Folterung von Demonstrierenden haben auch viele empört, die bislang das Regime stillschweigend unterstützt hatten. «Repression funktioniert nicht immer so, wie Diktatoren es möchten», schrieb Olga Onuch dazu auf Twitter.

Greift Putin ein?

Alexander Lukaschenko jedenfalls ist angeschlagen. Am Montag lehnte er Neuwahlen einmal mehr ab, dafür stellte er nicht näher umschriebene Reformen in Aussicht, mit denen er seine Macht teilen wolle. Gleichzeitig sucht er den Schulterschluss mit Russland. Am Sonntag sprach er mit Amtskollege Wladimir Putin, der ihm Unterstützung zusicherte.

Für Unruhe sorgten am Montag Berichte, wonach offenbar hastig umgepinselte und unkenntlich gemachte Militärlastwagen auf dem Weg zur belarussischen Grenze seien. Das erinnerte an die «grünen Männchen» 2014 auf der Krim. Allerdings ist unklar, ob Putin militärische Mittel einsetzen würde, um Lukaschenko an der Macht zu halten.

Die beiden Autokraten verbindet ein kompliziertes Verhältnis. Alexander Lukaschenko hat sich stets gegen die Umarmung durch den grossen Bruder in Moskau gesträubt, der sich Belarus womöglich gerne einverleiben würde. Lukaschenko ist lieber Herrscher in einem Kleinstaat als ein Vasall Putins, weshalb er immer wieder mit dem Westen «geflirtet» hat.

Womöglich wartet Putin ab, wie sich die Lage entwickelt. Eine Schwäche der Opposition war bislang das Fehlen einer klaren Führungsfigur. Swetlana Tichanowskaja hat sich am Montag aus ihrem «Exil» in Litauen bereit erklärt, «Verantwortung zu übernehmen und als nationale Anführerin zu handeln». Das Wichtigste sei die Unabhängigkeit von Belarus.

Der eigentliche Sargnagel für ein Regime aber sei «die internationale Antwort», meint die Politologin Onuch. Die Europäische Union wird am Mittwoch an einem Videogipfel über die Lage in Belarus beraten. Im Gespräch sind weitere Sanktionen gegen Mitglieder der Regierung. Sie könnten das endgültige Ende von Alexander Lukaschenko einleiten.

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Proteste in Belarus gehen weiter
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Proteste in Belarus gehen weiter
Belarus kommt nicht zur Ruhe. Seit dem Präsidentschaftswahlen am 9. August wird im Land protestiert.
quelle: keystone / dmitri lovetsky
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Belarus gibt nicht klein bei
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41 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Nikolai
17.08.2020 17:22registriert August 2016
Meiner Meinung nach waren 80% zu hoch angesetzt. Der Wahlbetrug war zu offensichtlich und das haben die Bürger bemerkt und sind in Massen auf die Strassen. Das Internet auszuschalten war auch doof, so wurden alle darauf aufmerksam gemacht und kein Netflix mehr. Als dann der Telegram Kanal mit über 2Millionen Follower die Polizeigewalt und Opfer der Demonstrationen zeigte und jeder einen im Freundeskreis oder Verwandtenkreis hatte der spurlos verschwunden ist war es definitiv vorbei. Jetzt glaubt niemand mehr der Regierung und dieser Telegram Kanal leitet schrittweise den Machtübergang.
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Chris69
17.08.2020 17:11registriert Juni 2015
ich hoffe, der liebe Herr Blunschi ist dieses Mal treffsicherer als bei seinen Abgesangsartikel zu Trump
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Fabio Haller
17.08.2020 17:34registriert September 2016
Eine Videokonferenz mal so an einem Mittwoch um 12.00 sieht nicht aus wie ein konsequenter Sargnagel. Genau dort sollte aber eine EU, wie die Schweiz, ansetzen. Bei der Bewahrung und/oder Förderung der Demokratie.
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