Ein Interview sorgt für Furore: Während 90 Minuten sprach der russische Präsident Wladimir Putin mit der «Financial Times» und erklärte seine Sicht der Welt. Die Zukunft gehöre Nationalisten und Populisten, die «biblische Werte» verträten. Die liberale Idee habe «ausgedient»: Sie stehe im Widerspruch zu den Interessen «einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung».
Putin liegt nicht falsch: 2018 war das 13. Jahr in Folge, in dem die Demokratie sich weltweit auf dem Rückzug befand, hielt die Denkfabrik Freedom House in ihrem Bericht zur Freiheit in der Welt fest. Lichtblicke in Ländern wie Armenien, Äthiopien oder Malaysia hätten daran nichts geändert. Selbst in Europa und Nordamerika befänden sich demokratische Einrichtungen unter Druck.
Das bekannteste Beispiel ist das EU-Mitglied Ungarn, das sich unter Regierungschef Viktor Orban zwar nicht in eine Diktatur verwandelt hat, aber auch keine vollwertige Demokratie mehr ist. Und doch scheint das Ende von Demokratie und Liberalismus nicht unausweichlich. Im Juni haben autoritäre Herrscher in mehreren Ländern erlebt, dass ihre Völker sich nicht alles bieten lassen.
Die Zivilgesellschaft in Putins Reich gilt als notorisch schwach. Die Russen werden gerne als passives, duldsames Volk beschrieben. Im letzten Monat aber gingen sie in mehreren Orten auf die Strasse und das mit Erfolg:
Noch ist Wladimir Putins Herrschaft nicht ernsthaft gefährdet. Aber nach 20 Jahren an der Macht wächst der Unmut in der Bevölkerung. Experten sehen dafür mehrere Gründe, etwa die letztes Jahr beschlossene unpopuläre Rentenreform. Der patriotische Furor nach der Annexion der Krim habe sich abgekühlt. In erster Linie aber ärgert sich die Bevölkerung über die schlechte wirtschaftliche Lage und die Teuerung.
In seiner jährlichen «Bürger-Sprechstunde» am Fernsehen sagte Putin, die Sanktionen des Westens würden der EU mehr schaden als Russland. Die Menschen machen eine andere Erfahrung. In der Fernsehsendung tauchte unter den zahlreichen eingeblendeten Fragen eine auf, die den Produzenten offensichtlich entgangen war: «Nur eine Frage: Wann verschwinden Sie?»
Seit dem gescheiterten Militärputsch vor drei Jahren hat Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Macht ständig ausgebaut. Das NATO-Mitglied Türkei schien sich unaufhaltsam auf eine Autokratie zuzubewegen. Dann kam die Kommunalwahl in der Metropole Istanbul, wo einst Erdogans Weg an die Staatsspitze begonnen hatte und seine Partei AKP seit 20 Jahren den Bürgermeister stellte.
Am 31. März aber siegte überraschend der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu, ein vermeintlich farbloser Lokalpolitiker, wenn auch nur ganz knapp. Die AKP erzwang auf fadenscheinige Art eine Wiederholung der Wahl. Doch die Istanbuler Bevölkerung spielte nicht mit. Am 23. Juni siegte Imamoglu nicht knapp, sondern so deutlich, dass Erdogan ihm nur noch gratulieren konnte.
Für den Staatschef war es mehr als eine Niederlage. Der Verlust der wichtigsten Stadt des Landes beschädigt seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit. Verantwortlich dafür ist wie im Fall von Putin nicht zuletzt die schlechte Wirtschaftslage. Nun scheint Erdogan nicht einmal mehr in der AKP unbestritten. Die kritischen Stimmen werden lauter, eine Spaltung scheint nicht unmöglich.
In der Volksrepublik funktioniert der Deal «Wohlstand gegen Fügsamkeit» noch. Der allmächtige Staatschef Xi Jinping treibt den Umbau zum totalen digitalen Überwachungsstaat scheinbar ungehindert voran. Ein von unbeugsamen Menschen bewohnter Ort aber hört nicht auf, den Mächtigen in Peking Widerstand zu leisten: die Sonderverwaltungszone Hongkong.
Dort kam es zu Demonstrationen mit bis zu zwei Millionen Teilnehmern, und das in einer Stadt mit sieben Millionen Einwohnern. Sie verlangten den Rückzug eines Gesetzes, das die Auslieferung verdächtiger Personen an die Volksrepublik erleichtern sollte. Damit werde die eigentlich bis 2047 garantierte Rechtsstaatlichkeit in Hongkong weiter ausgehöhlt, fürchteten die Demonstranten.
Das vermeintlich Undenkbare geschah: Die Peking-treue Regierungschefin Carrie Lam legte das Gesetz auf Eis. Ihren Gegnern genügte dies nicht: Am Montag, dem Jahrestag der Übergabe Hongkongs von Grossbritannien an China, stürmten einige das Parlament. Die Gewalt wurde als «kontraproduktiv» kritisiert, doch die Menschen in Hongkong haben nichts zu verlieren.
Für Xi Jinping war der Rückzug des Gesetzes ein Gesichtsverlust. Sein weiteres Vorgehen aber muss er sich gut überlegen. Die wirtschaftliche Bedeutung Hongkongs hat mit dem Wachstum auf dem «Festland» abgenommen, aber die Stadt ist nicht zuletzt wegen ihrer relativ grossen Freiheitsrechte noch immer der wettbewerbsfähigste Standort in China.
Von einer Trendwende zu reden, ist mit Sicherheit verfrüht. Aber der miserable Juni der Autokraten in China, Russland und der Türkei zeigt, dass Wladimir Putin mit seiner Diagnose falsch liegen dürfte. Demokratie und Liberalismus sind ziemlich zähe Pflanzen.