Nun also auch Pakistan. Seit dem letzten Wochenende finden im südostasiatischen Land Massendemonstrationen gegen die Regierung statt. Zehntausende protestieren gegen die schlechte Wirtschaftslage und die angeblich unrechtmässige Wahl von Ministerpräsident Imran Khan im letzten Jahr. Sie soll vom fast allmächtigen Militär manipuliert worden sein.
Pakistan ist so etwas wie der (vorläufig) letzte Dominostein in einer immer längeren Reihe von Staaten, in denen Menschen in den letzten Wochen und Monaten auf die Strasse gegangen sind. Das vergangene Jahr erlebt Massenproteste, wie sie in diesem Ausmass und vor allem auf dieser globalen Skala noch nie vorgekommen sind. Eine Auswahl, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Selbst unser sonst so friedliches und langweiliges Land geriet dieses Jahr in Bewegung, und das nicht ohne Folgen: Unter dem Eindruck von Frauen- und Klimastreiks hat die Schweiz am 20. Oktober ein Parlament gewählt, das grüner, jünger und weiblicher ist als jemals zuvor. Ohnehin ist die von Greta Thunberg inspirierte Klimastreik-Bewegung in dieser Aufzählung nicht enthalten.
Was ist los auf diesem Planeten? Warum rumort es 2019 an allen Ecken und Enden?
Die Ursachen für die Proteste sind ganz unterschiedlich. Es geht um politische Freiheiten, Wut auf korrupte Eliten und sehr oft um Perspektivlosigkeit und fehlende Chancengleichheit. An Erklärungsversuchen, warum sich der Frust gerade jetzt und so breit entlädt, fehlt es nicht. Für das Magazin «Economist» ist «die Suche nach einer einheitlichen Theorie womöglich zwecklos».
Oft werden Parallelen zur ebenfalls sehr breiten Protestbewegung in den 1960er Jahren gezogen, und das nicht zu Unrecht. Näher liegt aber ein Vergleich mit dem «Wendejahr» 1989, das mit dem Fall der Berliner Mauer vor genau 30 Jahren seinen Höhepunkt fand. Der Kollaps des Ostblocks und das Ende des Kalten Kriegs führten weltweit zu einem Demokratisierungsschub.
Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama verstieg sich zur Behauptung, mit dem Triumph von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft sei das «Ende der Geschichte» erreicht. In den letzten Jahren war jedoch das Gegenteil der Fall. Die Demokratie geriet unter massiven Druck. Diktatoren und (Rechts-)Populisten schränkten selbst in Europa die Freiheitsrechte ein.
Fukuyamas Auftritte wie vor einem Jahr an der Universität Zürich gerieten fast schon zu Bussgängen, bei denen ein reuiger Sünder Abbitte für seine Irrtümer leisten musste. Ist die globale Revolte ein Beleg dafür, dass der Stanford-Professor am Ende doch Recht bekommt? Es lohnt sich, einen Blick auf zwei Regionen zu werfen, in denen es zu einer Häufung gekommen ist.
In Nordafrika und im Nahen Osten demonstrieren vor allem junge Menschen gegen autokratische, verknöcherte und korrupte Eliten. In Algerien und Sudan erzwangen sie den Rücktritt von Langzeit-Herrschern. Besonders auffällig waren zuletzt die Kundgebungen in Irak und Libanon, wo politische Ämter häufig nach Konfession und nicht nach Kompetenz vergeben werden.
Der ägyptische Politologe Georges Fahmi bezeichnete die Proteste in der «NZZ am Sonntag» als «zweite Welle des Arabischen Frühlings». Die erste hatte sich als nicht nachhaltig erwiesen und in Libyen und Syrien zu blutigen Bürgerkriegen geführt. Der Fehler von 2011 sei gewesen, dass man die Machthaber stürzen wollte, aber keinen Plan für das weitere Vorgehen gehabt habe.
Nun ist Fahmi optimistischer, denn «es gibt trotz Syrien und Libyen immer noch den Willen zur Demokratie im arabischen Raum». Sogar in Fahmis Heimat Ägypten kam es im September zu zaghaften Protesten, und das will etwas heissen. Unter Diktator Abdel Fattah al-Sisi ist Ägypten, das 2011 so grosse Hoffnungen weckte, ein schlimmerer Polizeistaat als jemals zuvor.
In Lateinamerika war der Wandel um 1990 besonders augenfällig. Die Militärdiktaturen, die den Kontinent zuvor geprägt hatten, verschwanden sukzessiv. Die Demokratie aber führte nicht automatisch zu einem besseren Leben für die Masse. Nach wie vor herrscht in vielen Ländern eine grosse Ungleichheit. Der Wohlstand konzentriert sich bei einer schmalen Oberschicht.
Die «linke Welle» vor zehn Jahren brachte Verbesserungen, die aber nicht nachhaltig waren. In Venezuela kämpfen die Menschen ums nackte Überleben, Millionen sind ins Ausland geflohen. Im einst bewunderten Brasilien regiert heute ein Rechtspopulist. Auf der «Gegenseite» sieht es nicht besser aus. Das zeigt die Revolte im vermeintlich neoliberalen «Vorzeigeland» Chile.
Arabien und Lateinamerika deuten darauf hin, dass es vielleicht doch eine einigende Klammer für die weltweiten Proteste – oder einen grossen Teil davon – gibt: Es ist der Wunsch, gut und anständig regiert zu werden. Noch immer ist dies in zu vielen Ländern nicht der Fall. Schon beim Untergang der Ostblocks vor 30 Jahren war dieser Aspekt wichtiger als die fehlenden Freiheiten.
Welche Folgen die Protestwelle haben wird, bleibt vorerst offen. Auffällig ist das Fehlen von Führungsfiguren in den meisten Ländern. Soziale Medien sind für die Mobilisierung wichtiger als charismatische Köpfe. Dieser Aspekt trug bereits zum Scheitern des «ersten» Arabischen Frühlings oder der «grünen Bewegung» vor zehn Jahren im Iran bei. Auch jetzt kann die Revolte verpuffen.
So ist China ein – vermeintliches! – Beispiel dafür, dass ein totalitärer Staat Effizienz und Wohlstand garantieren kann. Im Grundsatz liegt Francis Fukuyama dennoch richtig: Demokratie und Marktwirtschaft bieten die beste Grundlage für «Good Governance». Nur dürfen soziale und ökologische Aspekte nicht vernachlässigt werden – auch das ist eine Lehre der aktuellen Proteste.
Die Gefahr besteht, dass sie versanden und zu einem Backlash führen werden. Sie sind dennoch ein Grund, um die Welt im Jahr 2019 etwas positiver zu betrachten.