Das Vereinigte Königreich erlebte am Dienstagabend einen Moment von selten gewordener Eintracht. Vor dem Parlament in Westminster jubelten sowohl die Befürworter wie die Gegner des Austritts aus der Europäischen Union. Die verfeindeten Lager freuten sich über das klare Nein zum Brexit-Plan von Premierministerin Theresa May, aus unterschiedlichen Gründen.
Die eine Seite will den totalen Bruch mit der EU, koste es, was es wolle. Der von May in Brüssel ausgehandelte Vertrag ist für sie Teufelszeug. Die EU-Befürworter wiederum hoffen, den Volksentscheid vom Juni 2016 rückgängig machen zu können. Dieser unversöhnliche Gegensatz ist ein wichtiger, wenn auch bei weitem nicht der einzige Grund für das Brexit-Chaos.
Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte nach der schlimmsten Parlamentsniederlage einer Regierung seit ewigen Zeiten keine andere Wahl, als den längst angekündigten Misstrauensantrag einzureichen. Schon am Dienstag zeichnete sich ab, dass er scheitern würde. Mays Konservative mögen in Sachen Brexit zerstritten sein, doch Neuwahlen hätten das Chaos nur vergrössert.
Die Regierungschefin kann vorerst weitermachen. Fragt sich nur, wie. «Das Parlament hat nur entschieden, was es nicht will, und nicht, was es will», sagte Theresa May nach der Abstimmung sinngemäss und zurecht. Dabei ist sie die Hauptschuldige am Debakel. Die 62-Jährige steht nun vor den Trümmern einer von Anfang an verfehlten Strategie.
Nach der Abstimmung 2016 wurde aus der lauwarmen EU-Befürworterin fast über Nacht eine feurige Brexit-Verfechterin. Sie umgarnte die siegreichen Leave-Anhänger und zeigte dem Remain-Lager die kalte Schulter. Mit Sprüchen wie «Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal» aber rief sie die Tory-Hardliner regelrecht dazu auf, ihren EU-Vertrag zu torpedieren.
Nun muss sie bis nächsten Montag einen Plan B vorlegen. Das Unterhaus hat sie gegen ihren Willen dazu verpflichtet, damit May nicht weiter Zeit schinden kann. Nun will sie das Versäumte nachholen und sich schon am Donnerstag mit Labour-Abgeordneten treffen, um auszuloten, wie sie deren Unterstützung gewinnen kann. Denn ihre Mitarbeiter betonten schon am Dienstag laut Politico, dass der Plan B nicht viel anders aussehen wird als der gescheiterte Deal.
Im eher unwahrscheinlichen Fall, dass ein Kompromiss mit der Opposition gefunden wird, würde Theresa May diesen in Brüssel vorlegen. EU-Chefunterhändler Michel Barnier erklärte sich am Mittwoch offen für neue Gespräche: «Ein geordneter Austritt bleibt in den nächsten Wochen unsere absolute Priorität.» Kontrollen an der Grenze zur Republik Irland müssten verhindert werden.
Die EU kann den auf den Ausgang zusteuernden Briten in diesem Punkt nicht mehr bieten als dem loyalen Mitglied Irland. Die Regierung in Dublin will die Grenze zu Nordirland offen halten. Sie fürchtet um den Friedensprozess im Nordteil der Insel. Deshalb lehnt sie eine zeitliche Begrenzung des so genannten Backstop ebenso ab wie dessen einseitige Aufkündigung durch London.
Ohne derartige Zugeständnisse wird es Theresa May weiterhin schwer haben, eine Mehrheit im Unterhaus für einen Plan B zu erhalten. Fällt auch dieser durch, ist die Lage wenige Wochen vor dem Austritt am 29. März vollends verfahren. Es ist nicht auszuschliessen, dass May in diesem Fall über ihren Schatten springt und in Brüssel eine Fristverlängerung beantragt.
Die EU wäre wohl dazu bereit. Bis Anfang Juli wäre das auch kein Problem im Hinblick auf die Europawahl, an der die Briten nicht mehr teilnehmen sollten. Ob drei zusätzliche Monate allerdings eine tragfähige Lösung erbringen, scheint mehr als fraglich. Deshalb drängt sich ein weiterer Ausweg auf: Das Parlament nimmt die Causa Brexit in die eigene Hand.
Das wäre eine mittlere Revolution für das britische System, doch was ist in den heutigen Zeiten schon normal? Einfach wäre auch dieser Weg nicht. Neben dem Nein zu Mays Brexit-Deal gibt es eigentlich nur für eine weitere Option eine klare Mehrheit: Ein für die Wirtschaft schädlicher vertragsloser Austritt soll vermieden werden. Über das Wie scheiden sich die Geister.
Ein «weicher» Brexit etwa in Form einer EWR-Mitgliedschaft hätte zahlreiche Nachteile. Die Briten müssten die Personenfreizügigkeit beibehalten. Dies gilt als Theresa Mays einzige echte rote Linie, denn der Unmut über die starke Zuwanderung von EU-Bürgern war der Hauptgrund für das Ja zum Brexit. Bleibt als einzige Alternative eigentlich nur eine zweite Abstimmung.
Hinter den Kulissen sollen Abgeordnete von Regierung und Opposition um den europhilen Tory-«Rebellen» Dominic Grieve bereits daran arbeiten. Jeremy Corbyn ist skeptisch, und das nicht nur wegen seinen EU-kritischen Überzeugungen. Die Mitglieder seiner Partei sind überwiegend proeuropäisch, doch die meisten Labour-Wahlkreise haben 2016 den Brexit befürwortet.
Nach dem Scheitern seines Misstrauensantrags könnte der Labour-Chef trotzdem auf ein zweites Referendum umschwenken. Es wäre die beste aller schlechten Lösungen. Die Briten könnten im vollen Wissen um die Konsequenzen noch einmal entscheiden. Bleibt es beim Brexit, müsste das Parlament nachgeben. Andernfalls verbliebe das Königreich in der Europäischen Union.
In beiden Fällen würde die Stimmung in einem der Lager, die am Dienstag gejubelt haben, in Enttäuschung bis Wut umschlagen. Doch niemand könnte dann sagen, man hätte nicht gewusst, worauf man sich einlässt. Man muss die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat.