Vizepräsident der Vereinigten Staaten zu sein, gilt nicht unbedingt als Traumjob. Die meiste Zeit steht man herum wie bestellt und nicht abgeholt. Ein ehemaliger Vize namens John Nance Garner verglich das Amt daher gar mit einem «Kübel voll warmer Spuke».
Mike Pence hat dieses Klischee bisher mehr als bestätigt. Die meiste Zeit stand er wie ein Ölgötze im Schatten seines Herrn und erfüllte dessen Befehle geradezu sklavisch. Der Comedian Trevor Noah witzelte daher, Pence sei, wie wenn man anstatt Kokain Mehl schnupfen würde. Das Internet lacht heute noch über die Szene, als der Vize sofort ebenfalls seine Wasserflasche auf den Boden stellte, nachdem dies Trump getan hatte.
Dass der strenggläubige Pence seine Frau als «Mutter» bezeichnet und sich weigert, ohne sie mit einer anderen Frau allein im gleichen Raum zu sein, rundet das Bild ab.
Kommen sie an die Macht, können Vize-Präsidenten jedoch auch Geschichte schreiben. Theodore Roosevelt – er ersetzte den 1901 ermordeten William McKinley – wurde einer der bedeutendsten US-Präsidenten. Unter anderem zerschlug er das Erdölkartell von John Rockefeller.
Nach dem Tod von Franklin D. Roosevelt entwickelte sich Harry Truman als Gegenspieler von Josef Stalin. Lyndon B. Johnson weitete nicht nur John F. Kennedys unseligen Vietnam-Krieg aus. Er erschuf auch den mittlerweile wieder abgehalfterten amerikanischen Sozialstaat und verhalf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zum Durchbruch.
Andrew Johnson, dem ehemaligen Vize von Abraham Lincoln, fällt die dubiose Ehre zu, der «schlechteste amerikanische Präsident» aller Zeiten zu sein, ein Titel, der ihm von Trump ernsthaft streitig gemacht wird. Johnson hat die Rechte der Schwarzen nach dem Bürgerkrieg weitgehend wieder annulliert.
Ob Kamala Harris oder Mike Pence, beide haben gute Chancen, ebenfalls frühzeitig ins Oval Office einziehen zu können. Biden ist 78 Jahre alt. Es ist wahrscheinlich, dass er – sollte er die Wahl gewinnen – höchstens eine Amtszeit absolvieren wird. Selbst ein vorzeitiger Rücktritt ist denkbar.
Spätestens seit seiner Covid-19-Diagnose ist Trump gesundheitlich angeschlagen. Sollte er das Weisse Haus behaupten können, ist ebenfalls alles andere als sicher, dass er eine gesamte Amtszeit überstehen wird.
Das Duell Harris gegen Pence von heute Abend steht daher unter einem speziellen Vorzeichen. Kaum je sind zwei Anwärter auf das Amt des Vize näher an den Schalthebeln der Macht gewesen als diese beiden.
Das Duell startet auch unter gegenteiligen Vorzeichen als dasjenige ihrer beiden Chefs. Von Harris wird erwartet, was Trump vergeblich mit Biden versucht hat: Dass sie ihren Kontrahenten nach Strich und Faden in seine Einzelteile zerlegt.
Sie bringt das nötige Rüstzeug dazu mit. Harris war Staatsanwältin in San Francisco und Justizministerin im Bundesstaat Kalifornien. Sie war die erste farbige Frau in diesen Ämtern und hatte sich jeweils gegen weisse Männer durchgesetzt. Selbst ihren ehemaligen Chef boxte sie aus dem Amt.
Als Senatorin hat sie in den Hearings etwa Brett Kavanaugh ins Schwitzen gebracht. Als es um die Frage der Abtreibung ging, wollte sie vom zukünftigen Bundesrichter wissen, ob er ihr ein Gesetz nennen könne, das den männlichen Körper regle. Der Abtreibungs-Gegner Kavanaugh konnte bloss stotternd antworten. Auch Joe Biden sah in der ersten Vorwahl-Debatte gegen Harris sehr alt aus.
Doch gegen Pence muss die Senatorin einen Gang zurückschalten. «Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass ein guter Staatsanwalt oder eine Senatorin, die es versteht, Kreuzverhöre durchzuführen, auch eine gute Debatte eins-gegen-eins führen kann», erklärt der erfahrene Anwalt Robert Barnett in der «New York Times».
Tatsächlich kann Mike Pence davon profitieren, dass er unterschätzt wird. Das bekam bereits Tim Kaine, der Running Mate von Hillary Clinton, vor vier Jahren zu spüren. Pence war einst Radio-Moderator und weiss sehr genau, wie man mit geschickten Zwischensprüchen punkten kann. Kaines aggressive Attacken liess er kalt auflaufen.
Anders als bei Trump liegt die Stärke von Pence in der Defensive. Er wirkt ruhig und überlegt, lässt sich kaum provozieren. Ihn frontal anzugreifen, ist daher kaum die richtige Taktik. Pence polarisiert auch weniger als Trump. In Meinungsumfragen liegt er mit Harris etwa gleichauf.
Das grosse Handicap von Pence ist jedoch die Coronakrise. Das gilt schon rein visuell: Die Debatte findet hinter Plexiglas und mit speziell grossem Abstand statt. Als Leiter der Corona-Task-Force muss der Vize zudem die hohe Zahl der Toten rechtfertigen, welche die USA zu beklagen haben, und die rosigen Prognosen, die auch er immer wieder verbreitet hat.
Pence muss gar rechtfertigen, weshalb er überhaupt an der Debatte teilnimmt. Gemäss den eigenen Richtlinien müsste er sich nämlich in einer Quarantäne befinden. Auch er nahm an der verhängnisvollen Veranstaltung auf dem Rose Garden des Weissen Hauses teil, die mittlerweile als Superspreader-Event gilt und die das halbe Establishment der Grand Old Party flach gelegt hat.
Pence wollte erst gar keine Plexiglasscheiben, sondern das Duell lieber absagen. Und so jemand leitet die Corona Task Force im Weissen Haus.
"Trump ist krank, Biden alt". Nein, das stimmt so nicht: beide sind alt. Die 4 Jahre, die Biden älter als Trump ist, machen das Alter nicht zum Unterscheidungskriterium. Eine Aussage wie diese kolportiert das (falsche) Bild von Biden als senilem Greis. Wie wärs mit "Trump ist ein Lügner, Biden ist gesund?"