Niemand hat etwas gesehen, keiner hat etwas gehört. Doch plötzlich schiesst durch Günter Dittmanns Körper ein Stromschlag von mehreren Tausend Ampere. Ein Blitz ist in einen Baum gleich neben ihm eingeschlagen und wird über den Boden in seinen Körper geleitet. Es ist der 13. Juni 1999, der Tag, der Dittmanns Leben von Grund auf verändert. Dieser Tag hätte sein Letzter sein können. Stattdessen beginnt eine zweite – völlig andere – Phase: Ein Leben nach dem Blitzschlag.
Zweimal im Jahr unternimmt der aus dem deutschen Thüringen stammende Architekt mit einer Gruppe von Gleichgesinnten einen Ausflug, um Landschaftszeichnungen zu erstellen. Dieses Mal – es ist der Sommer 1999 – treibt es die 12-köpfige Gruppe auf die Klosterinsel Rheinau in der Nähe von Schaffhausen. Als der Himmel sich zuzieht und es zu nieseln beginnt, laufen die Künstler zurück zu den Autos.
«Es sah nicht aus, als würde es gewittern, es war auch kein Donner zu hören», erzählt Dittmann 15 Jahre später. Und trotzdem ist der damals 55-Jährige vom Blitz getroffen worden. «Wir sind eine Allee entlang gelaufen, der Blitz muss in einen Baum neben mir eingeschlagen und dann durch den Boden auf meinen Körper übergegangen sein. Gespürt habe ich nichts und ab da setzt auch meine Erinnerung aus.»
Dittmanns Herz hört auf zu schlagen. Mit einem Helikopter wird er ins Unispital Zürich gebracht, später verlegt man ihn in die Rehaklinik Zihlschlacht. Dort kommt er nach einem vierwöchigen Wachkoma wieder zu sich, doch von seinem alten Leben ist nichts mehr übrig: «‹In welchem Hotel bin ich denn jetzt gelandet?› habe ich mich gefragt, als ich wach wurde.» Dittmanns Erinnerung ist komplett ausgelöscht – er erkennt weder seine Frau noch seine drei Töchter.
Bei dem Unfall erleidet Dittmann einen Hirnschlag, weshalb er am Anfang Probleme hat, sich zu artikulieren. Ausserdem spürt er das Bein nicht mehr, in das der Blitz eingeschlagen ist. «Ich war auf den Rollstuhl angewiesen und konnte mich kaum bewegen», berichtet Dittmann. Seine Frau und die Kinder wissen nicht, wie es mit ihm weitergeht. Doch sein starker Wille bringt ihn wieder auf die Beine.
Nach einiger Zeit kann Dittmann mit Hilfe eines Rollators laufen – heute geht der inzwischen 70-Jährige am Stock. In seiner Wohnung bewegt er sich streckenweise ganz ohne Hilfsmittel. Und von dem tauben Gefühl im Bein ist höchstens noch ein Zeh in ganz geringem Masse betroffen. Nach einem halben Jahr kann Dittmann die Klinik verlassen.
Deutlich gravierender ist der Verlust seines Gedächtnisses: «Ich habe immer wieder von dem Ort Göllingen gesprochen – das ist das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Das war scheinbar das Einzige, was von meiner Erinnerung übrig war», erzählt der ehemalige Architekt. Seine Familie zeigt ihm Fotos, erzählt aus der Vergangenheit und hilft ihm so, das Vergessene zurückzuholen. «Heute, würde ich sagen, sind 80 Prozent meines Gedächtnisses wieder da.»
Das Einzige, was Dittmann bei dem Blitzunfall weder verliert noch vergisst, ist den Hang zur Malerei: «Noch in der Klinik in Zihlschlacht habe ich wieder angefangen, zu zeichnen.» In einer Art Tagebuch versucht er, das Geschehene zu verarbeiten, malt seinen Bettnachbarn und das, was er sieht, wenn er aus dem Fenster schaut.
Seinen Beruf als Architekt muss Dittmann aufgeben. Er kann kein Auto mehr fahren und auf Reisen geht er seit dem Unfall auch nicht mehr. Unter fremden Menschen fühlt er sich nicht mehr so wohl, «aber hier – in meinem gewohnten Lebensraum – geht es mir gut. Ich habe gelernt zu akzeptieren.»
Dass er sich manchmal unsicher fühlt, liegt an den Schwierigkeiten, die er teilweise noch beim Sprechen hat. Wenn er sich auf ein Gespräch vorbereiten kann, merkt man ihm diese Schwäche kaum an. Dann kann er sich die Worte vorher ein wenig zurecht legen – spontane Unterhaltungen fallen ihm schwerer.
Bis Dittmann die jetzige Situation akzeptieren konnte, hat es eine ganze Weile gedauert. «Warum bin gerade ich vom Blitz getroffen worden? Habe ich falsch gezeichnet?» Diese Fragen spuken immer wieder in Dittmanns Kopf herum, bleiben jedoch unbeantwortet. Als er in der Klinik Menschen kennenlernt, die zum Teil jünger sind als er und denen es deutlich schlechter geht, wird ihm irgendwann klar: «Ich muss einen neuen Weg gehen.»
Diesen neuen Weg bestreitet er, indem er sich der Kunst noch stärker widmet als früher. Er nimmt an Wettbewerben teil, seine Bilder werden an verschiedenen Vernissagen gezeigt, zudem engagiert er sich bei der Interessengemeinschaft Behinderter Künstler.
Doch hat sich an seinem Stil etwas verändert durch den Blitzschlag? «Meine Phantasie ist die gleiche geblieben, der Strich hat sich ein bisschen verändert – er ist etwas steifer, nicht mehr ganz so flüssig.» Die Stilveränderung lässt sich bei einem direkten Vergleich erkennen.
Legenden zufolge gibt es Menschen, die – nachdem sie vom Blitz getroffen worden sind – eine neue Gabe besessen haben. Bei Dittmann könnte man die Liebe zum Trickfilm als solch «neue Gabe» bezeichnen. «Manchmal frage ich mich selber, warum ich das jetzt mache. Vor dem Blitzschlag wäre ich glaube ich nie darauf gekommen», sagt er und lacht.
Aus alten Skizzen macht er Neue, es kommt mehr Farbe ins Spiel. Und aus vielen kleinen gezeichneten Bildern werden durch Einzelbildschaltung Kurzfilme von circa fünf Minuten. Wenn Dittmann davon erzählt und seine Werke stolz präsentiert, kann man sich kaum vorstellen, dass der 70-Jährige vor 15 Jahren alles von Neuem lernen musste – wie ein kleines Kind. «Wenn ich künstlerisch tätig sein kann, geht es mir gut.»
Seit 2006 lebt Dittmann mit seiner Frau im Alterszentrum Kreuzlingen. Der Grund dafür ist jedoch nicht der Blitzschlag, der ihn im Alltag einschränkt, sondern die Erbkrankheit seiner Frau: «Sie ist ein 100-prozentiger Pflegefall, ich kümmere mich rund um die Uhr um sie. Mit der Unterstützung vom Alterszentrum kommen wir sehr gut zurecht».
Als das Paar vor acht Jahren hergezogen ist, hatten sie das Glück, eine ehemalige Hausmeisterwohnung, die sich über zwei Etagen erstreckt, übernehmen zu können. Dieses Appartement ist deutlich grösser als die restlichen Wohnungen im Alterszentrum, was Dittmann die Möglichkeit geboten hat, sich ein eigenes Atelier einzurichten. «Wenn meine Frau gegen zehn Uhr eingeschlafen ist, gehe ich in mein Arbeitszimmer und zeichne oft bis nachts um eins.»