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Politische Korrektheit: Der Nährboden für Hassprediger

watson-Autor Philipp Löpfe steht zu seiner Meinung.
watson-Autor Philipp Löpfe steht zu seiner Meinung.
Bild: Karl-Heinz hug

An die Gralshüter der politischen Korrektheit: Ihr überlasst den Hasspredigern das Terrain! – Ein offener Brief

Im Zeitalter der Online-Kommentare entsteht im Internet eine «political correctness»-Polizei. Sie ist der beste Nährboden für populistische Hassprediger aller Art.
03.12.2015, 10:1104.12.2015, 07:01
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Sehr geehrte Gralshüter der politischen Korrektheit,

kürzlich habe ich eine Story mit der Überschrift «Wenn es ums Klima geht, sind wir schizophren» geschrieben. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass wir derzeit zwei Dinge tun, die sich widersprechen. Auf der politischen Ebene werden Massnahmen gegen die Klimaerwärmung mehrheitlich blockiert. Gleichzeitig hat die Wirtschaft das Potenzial der erneuerbaren Energien entdeckt und gibt Gas.

Nicht einmal im Traum hätte ich daran gedacht, Menschen damit zu beleidigen, die tatsächlich an der Krankheit Schizophrenie leiden. Etwas anderes wäre es gewesen, hätte ich «Neger» geschrieben, ein Begriff, bei dem jedes Kind weiss, dass er bewusst rassistisch und beleidigend gemeint ist.

Die User melden sich zu Wort

Die Reaktion erfolgte umgehend. In der Kommentarspalte schickte mir ein Teilnehmer mit dem Pseudonym «geht doch» einen Wikipedia-Link zum Stichwort «Schizophrenie» zu.

«Vor dem inflationären Gebrauch dieses psychiatrischen Begriffs wäre vielleicht mal eine eingehende Befassung mit seiner Bedeutung angebracht.»
User «geht doch»

Und Twitterin @Jasmin_La Pirata liess mich wissen:

An sich wäre der Vorfall eine Bagatelle. Meine Befindlichkeit ist in diesem Zusammenhang irrelevant, und in rund zehn Jahren Online-Journalismus habe ich gelernt, mit Kritik auch der gröberen Art zu leben.

Es geht um mehr, nämlich um die Tatsache, dass in den Online-Kommentaren immer öfters weder Kritik geäussert noch eine andere Meinung vertreten wird.

Im Trend liegen vielmehr wehleidige Klagen mit Appellen an die politische Korrektheit.

Shakespeare wird von der Uni verbannt

Die «political correctness» ist wieder auf dem Vormarsch, vor allem in ihrem Ursprungsland, den Vereinigten Staaten. An Elite-Universitäten weigern sich Jus-Studenten, Vorlesungen über die strafrechtlichen Folgen einer Vergewaltigung zu besuchen, weil sie das emotional nicht verkraften können.

Aus den Literaturvorlesungen werden Werke von Klassikern wie William Shakespeares «Der Kaufmann von Venedig» (wegen Antisemitismus») oder Scott Fitzgeralds «Der Grosse Gatsby» (wegen Frauenhass) verbannt.

Edward Luce, US-Korrespondent der «Financial Times», beschreibt die Lage wie folgt: 

«Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft mir Vorsteher von Fakultäten gestanden haben, dass sie – aus Angst, Anstoss zu erregen – ihre Sprache zensurieren.»
Edward Luce, «Financial Times»

Standardblöcke per E-Mail

Das mögen Auswüchse sein – schliesslich ist Amerika das Land der Extreme – aber auch bei uns werden Aussagen von Politikern und Wirtschaftsvertretern inzwischen solange von Kommunikationsfachleuten durchforstet und durchgeknetet, bis sie todsicher niemanden mehr beleidigen können. Dumm bloss, dass sie dabei auch völlig nichts sagend werden.

Ein aktuelles Beispiel schildert Urs Paul Engeler in der Handelszeitung. Auf eine Anfrage zu seiner beruflichen Tätigkeit antwortet Thomas Aeschi, einer der drei SVP-Bundesratskandidaten:

«Ich habe auf alles schriftliche Standardblöcke vorbereitet, die Sie via E-Mail abrufen können.»
Thomas Aeschi, SVP-Bundesratskandidat

Die Populisten können sich bedanken

Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist nicht nur grotesk, sie zeigt auch kontraproduktive Wirkung. Die Sprache der Elite verkommt zu blutleeren Formeln und lässt ihre Vertreter abgehoben erscheinen. Die Meinungsfreiheit geht vor die Hunde, denn nicht nur die Natur, sondern auch die Politik verträgt kein Vakuum.

Im Sinne von «Als freier Eidgenosse wird man wohl noch sagen dürfen, was wahr ist», stossen dafür Populisten aller Art in die Lücke, welche die politische Korrektheit hinterlässt. Sollten sie auf Widerstand treffen, heulen sie auf und schreien «Zensur!».  

Eine überdrehte politische Korrektheit wird so zum besten Nährboden für wirklich gefährliche Politiker. Sie erscheinen in diesem Umfeld «authentisch», wie etwa Donald Trump, der kein Fettnäpfchen auslässt und gerade deswegen nach wie vor in den Meinungsumfragen der republikanischen Präsidentschaftskandidaten oben aus schwingt. Das sollte uns zu denken geben.

Hochachtungsvoll,

Philipp Löpfe

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102 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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kaiser
03.12.2015 10:49registriert Februar 2014
Ich finde das Thema sehr interessant und es geht für mich über die "political correctness" hinaus. Es geht wie genannt um die Angst etwas Falsches zu sagen. Für mich hat es mit Freiheit zu tun. In den Kommentaren bildet sich oft eine Einheitsmeinung heraus. Wenn ich mit der Masse mitgehe werde ich dann entsprechend "gelikt". Ich werde also dafür belohnt keine eigene Meinung zu haben, sondern mit der Masse mitzugehen. Ein Anders-Denkender wird virtuell gesteinigt mit Thumbs-Down oder Blitzchen. Wer lässt sich schon gerne virtuell steinigen? Werden wir alle zu populistischen Zombies?
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MaskedGaijin
03.12.2015 10:40registriert Oktober 2014
all diese dauer-empörten sind wirklich mühsam. glauben mit einem hashtag und ein paar zeilen auf twitter oder facebook die welt zu verändern. und die weisheit haben sie natürlich mit dem löffel gefressen. mögen sie an ihren starbucks caramel frappuccinos ersticken...
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stayhome
03.12.2015 11:06registriert Mai 2015
Es ist halt vielfach einfacher, eine Aussage moralisch zu bewerten anstatt sich sachlich mit einem Thema auseinanderzusetzen und dazu eine entsprechende Meinung zu äussern. Wer moralisch argumentiert, lässt meist keinen Raum für Differenzierungen zu, da es nur schwarz oder weiss gibt. Es lässt sich also durchaus sagen, dass ein zu starkes Beharren auf moralischer bzw. politischer Korrektheit dem Ziel einer sachdienlichen Diskussion zuwiderläuft. In diesem Sinne täte es m.E. gut, vermehrt den Turm der moralischen Überlegenheit zu verlassen und sich dem sachlichen Diskurs zu stellen.
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