2007 bewarb sich Brian Acton bei Facebook. Der Informatiker, der zuvor bei Apple und Yahoo gewesen war, bekam den Job nicht. Stattdessen gründete er mit seinem Freund Jan Koum WhatsApp. Anfang 2014 verkauften die beiden ihr Baby für die unfassbare Summe von 19 Milliarden US-Dollar an Mark Zuckerbergs Facebook-Konzern. Der Verkauf brachte Acton, der sich selbst als Geek und Tech-Nerd bezeichnet, rund 3,5 Milliarden Franken ein.
Es hätte noch viel mehr sein können, hätte er nach dem Verkauf für vier Jahre bei Facebook ausgeharrt. Sein Vertrag sah vor, dass er sein Aktienpaket gestaffelt beziehen kann und die letzte Tranche frühestens nach vier Jahren ausbezahlt wird. Doch Acton schmiss den Job als WhatsApp-Co-Chef bei Facebook vor knapp einem Jahr hin und verzichtet somit – anders als sein Freund Jan Koum – auf die letzte Tranche seiner Aktienanteile. Sein vorzeitiger Abgang kostete ihn 850 Millionen Dollar.
Warum aber verzichtete Acton auf so viel Geld?
Einen ersten Hinweis gab er im März dieses Jahres: Er twitterte kurz und knapp: «Es ist an der Zeit. #deletefacebook».
It is time. #deletefacebook
— Brian Acton (@brianacton) 20. März 2018
Danach herrschte Funkstille, weitere Tweets oder Erklärungen gab es nicht – bis jetzt.
Rückblickend sagt Acton im Interview mit dem Wirtschafts-Magazin «Forbes»:
Kurz gesagt: Acton verliess Facebook unter Druck der Facebook-Chefs Mark Zuckerberg und Sheryl Sandberg, die mit WhatsApp endlich Geld verdienen wollen. Damit war der Tech-Nerd, der sich immer für ein werbefreies WhatsApp ausgesprochen hatte, nicht einverstanden. Also ging er und verzichtete auf zig Millionen.
Die lange Version der Geschichte ist weit vielschichtiger: Acton ist smart genug, sich nicht als moralischen Helden zu inszenieren, der sich selbstlos für die Rechte der Nutzer einsetzt. Stattdessen sagt er Dinge wie: «Facebook ist nicht der Bösewicht.» Zuckerberg und Sandberg seien ganz «einfach sehr gute Geschäftsleute». Zuckerberg habe ihm einst nüchtern gesagt, dass WhatsApp für ihn einfach «ein Produkt des Facebook-Konzerns» sei, wie zum Beispiel Instagram. Für Acton und Koum war der Messenger eine Herzensangelegenheit.
WhatsApp unter das Dach von Facebook zu stellen, stand von Anfang an unter einem schlechten Stern: «Facebook verfügt über eines der weltweit grössten Werbenetzwerke; Acton und Koum hassen Werbung», bringt Forbes die verzwickte Situation auf den Punkt. Facebook macht 98 Prozent seines Gewinns mit Werbung, Acton hingegen ist ein «Datenschutz-Fanatiker», dessen Überzeugungen mit Zuckerbergs Maxime der personalisierten Werbung nicht vereinbar ist.
Diese unüberbrückbare Dissonanz frustrierte Zuckerberg immer mehr, der auch unter Druck der Investoren steht, die bei jedem Quartalsbericht neue Rekordgewinne erwarten. Drei Jahre nach der Übernahme wollte Zuckerberg in den Status-Meldungen personalisierte Werbung anzeigen. Für Acton kam dies einem Verrat an den Nutzern gleich. Sein Motto für WhatsApp war stets: «Keine Werbung, keine Spiele, keine Gimmicks.»
Acton schwebte vor, dass Vielnutzer einen sehr geringen Betrag bezahlen, wenn sie eine hoch angelegte Obergrenze an Gratis-Nachrichten verschickt haben. Weitere Einnahmen sollen Firmenkunden bringen, die WhatsApp für kommerzielle Zwecke nutzen. Da dieses Bezahlmodell viel weniger Gewinn einbringen würde als personalisierte Werbung, stiess er mit seinem Vorschlag bei Zuckerberg auf Granit. Zur Erinnerung: Zuckerberg hat 19 Milliarden Dollar für die App auf den Tisch gelegt. Die Facebook-Investoren erwarten, dass sich der Kauf bezahlt macht.
Klar ist: Die Vorstellungen von Zuckerberg und Sandberg einerseits sowie Acton und Koum andererseits waren von Anfang an nicht kompatibel. Auf der einen Seite die Tech-Nerds, die ihre App populärer und sicherer machen wollen. Auf der anderen Seite das Facebook-Führungsduo, das möglichst viel Geld aus WhatsApp bzw. seinen Nutzern pressen will (oder je nach Perspektive muss).
Warum also haben Acton und Koum ihre App überhaupt verkauft? Vor 2014 hatten sie jahrelang versichert, ihre App niemals zu verkaufen und auf keinen Fall Werbung zuzulassen.
Doch:
WhatsApp verdiente vor dem Verkauf an Facebook genug Geld, um die Mitarbeiter zu bezahlen, aber es war keine Gelddruckmaschine, wie es Zuckerberg vorschwebte. Als der Facebook-Chef Wind davon bekommen hatte, dass auch Google an WhatsApp interessiert ist, «kam er mit einer grossen Summe Geld und machte uns ein Angebot, das wir nicht ablehnen konnten», sagt Acton.
Zuckerberg versprach, es gäbe «null Druck» in den nächsten fünf Jahren, mit WhatsApp Geld zu verdienen, sprich Werbung anzuzeigen. Die WhatsApp-Gründer beharrten zudem auf einer Klausel im Vertrag, die ihnen ihr gesamtes Aktienpaket garantiert, sollte Facebook vor 2019 Werbung einführen oder andere «Monetarisierungs-Massnahmen» umsetzen, denen sie nicht zustimmen.
Die WhatsApp-Gründer haben also einen goldenen Fallschirm, die User nicht. 2019 droht Ungemach.
2016 führte WhatsApp eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein, die das unbefugte Mitlesen von Nachrichten durch Dritte massiv erschwert. Selbst WhatsApp kann die Nachrichten nicht mitlesen. Die Verschlüsselung torpediert aber auch Facebooks Bestreben, personalisierte Werbung in WhatsApp anzuzeigen. Zuckerberg hat sich zunächst trotzdem für die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ausgesprochen. Doch 2019, wenn das Werbe-Moratorium abläuft, wird Facebook vermutlich Wege finden, auf die eine oder andere Art Werbung in WhatsApp anzuzeigen.
Actons Hass auf Online-Werbung und Profitmaximierung ist tief eingeimpft und geht auf seine Zeit als Manager bei Yahoo zurück. Yahoo pflasterte damals die Webseite mit Bannerwerbung zu. Rasch Geld verdienen war wichtiger als ein gutes Nutzererlebnis. Acton sah, wie sich die Geschichte bei WhatsApp zu wiederholen droht. Facebook tue alles, um mehr Geld zu verdienen, sagt er im Gespräch mit Forbes. «Es war Zeit zu gehen.»
Das Fass endgültig zum Überlaufen brachten wohl Facebooks Pläne, die Nutzerdaten von Facebook und WhatsApp zu verschmelzen. Die EU hat dies in Europa vorerst verhindert, im Rest der Welt ist die Datenverknüpfung bereits Tatsache. Acton musste der EU-Kommission bei der WhatsApp-Übernahme zu diesem heiklen Thema Auskunft geben. Er sei von Facebook angewiesen worden, zu sagen, dass es sehr schwierig wäre, die Daten von WhatsApp und Facebook zu verschmelzen. Doch im Hintergrund arbeitete Facebook – angeblich ohne sein Wissen – längst daran. Als die Pläne publik wurden, stand Acton als Lügner da.
Acton hat im «Forbes»-Interview seine Sicht der Dinge dargelegt. David Marcus, der ehemalige Facebook-Messenger-Chef, widerspricht ihm in einem als Privatperson veröffentlichten Blogpost mit dem Titel «The other side of the story»: Marcus sagt, er sei bei vielen Meetings zwischen den WhatsApp-Gründern und Zuckerberg dabei gewesen und Zuckerberg habe WhatsApp viel mehr Autonomie zugestanden, als es in anderen Grosskonzernen bei der Übernahme von Start-ups üblich sei.
WhatsApp habe zum Beispiel andere Büros als Facebook-Teams bekommen – samt wesentlich grösseren Tischen und mehr privatem Raum. WhatsApp-Mitarbeiter hätten Facebook-Angestellte von ihren Konferenzräumen ausgeschlossen, was viele irritiert habe. Zuckerberg habe WhatsApp lange verteidigt, um dem Start-up den notwendigen Freiraum innerhalb des Konzerns zu gewähren.
Es sei «unterstes Niveau», ausgerechnet jene Leute öffentlich zu attackieren, die einen selbst zu einem Milliardär gemacht haben, schreibt Marcus weiter, der mittlerweile Facebooks Blockchain-Abteilung leitet.
Acton sagt, er habe von seinen 3,6 Milliarden Dollar eine Milliarde in einen Wohltätigkeitsfonds gesteckt. Mit 50 Millionen Dollar unterstützt er zudem den WhatsApp-Rivalen Signal, der ähnlich wie Threema auf eine sichere Kommunikation bedacht ist.