Wer bin ich und was genau habe ich verbrochen? Habe ich wirklich meine Frau umgebracht? Bin ich für das Leid meiner Kinder verantwortlich? Und warum verfolgt mich eine Spukgestalt in meinem eigenen Haus, das sich immer wieder in surreale Schreckensszenarien verwandelt? Fragen über Fragen. Einige werden beantwortet. Einige bleiben im Raum stehen und nagen an der Seele.
«Infliction» war im letzten Herbst ein kleiner Überraschungshit. Der Indie-Horror-Titel von Caustic Reality erschien für PC, war mit seinen ca. fünf Spielstunden sehr kurz, räumte aber einige Preise ab. Absolut gerechtfertigt, denn wer sich diesem Albtraum hingab, erlebte ein paar intensive Stunden, in denen der Schrecken nicht nur durch plakativen Horror in die Glieder fuhr, sondern unterschwellig auf Konfrontationskurs ging. Jetzt gibt es den Titel als Extended Cut auch für alle aktuellen Videospielkonsolen.
Was bietet der Extended Cut genau? Nach dem ersten Durchgang darf man nochmals ran, wenn man sich traut. Denn dieses Mal taucht der hartnäckige Stalker-Geist noch öfters auf. Zudem haben sich ein paar der Rätsel verändert, es sind neue hinzugekommen und zusätzliche Szenen warten auf ihre Entdeckung. Inhaltlich bleibt aber alles beim Alten ...
Die Geschichte fängt ganz harmlos an. Meine Frau wartet sehnsüchtig am Flughafen auf mich. Doch für die Abreise fehlen noch die Tickets, die zuhause vergessen wurden. Also begebe ich mich ins Auto und fahre ins traute Heim um die wichtigen Utensilien abzuholen.
Schon beim ersten Gang durch das schick eingerichtete Haus spürt man sofort, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Gruselige Masken hängen an den Wänden, verstörende Malereien wechseln sich mit idyllischen Familienfotos ab und abgeschlossene Türen wecken die Neugierde.
Irgendetwas Beklemmendes hängt in der Luft. Man kann es nicht sehen oder greifen, aber es ist da. Dieses Gefühl verstärkt sich, als die Tickets endlich gefunden werden. Denn plötzlich werde ich Zeuge eines schrecklichen Mordes. Meine Frau wird brutal niedergestochen. Der Täter bin ich anscheinend selber. Oder ist alles nur ein Traum? Ich flüchte panisch aus dem Haus, stürme ins Auto, fahre mit Bleifuss davon und baue einen Unfall. Nach einem harten Schnitt bin ich wieder im Haus und der wahre Psychotrip beginnt erst.
Was folgt ist spielmechanisch simpel. Ich brauche eine Handvoll persönlicher Gegenstände, um damit ein Ritual durchzuführen, so will es jedenfalls plötzlich eine bedrohliche Stimme in meinem Kopf. Dieses Ritual ist nötig, um eine gewaltbereite Spukgestalt, die mich ständig verfolgt, zu erlösen. Es liegt eigentlich auf der Hand, dass diese Geistererscheinung meine tote Frau ist, doch meine Unsicherheit wird grösser und grösser je tiefer ich in die schicke Villa eindringe.
So mache ich mich denn via Egoperspektive auf die Suche nach einem Foto meiner ehemaligen Ehegattin oder suche das versteckte Hochzeitskleid von ihr. Dabei wird nicht nur jeder Winkel des Hauses durchsucht und sehr einfache Rätsel gelöst, sondern auch diverse Traum- oder Erinnerungssequenzen müssen durchlebt werden, um das Objekt der Begierde zu finden.
Ich stolpere nicht nur durch dunkle Korridore im Keller, sondern befinde mich plötzlich auch in einer abgelegenen Berghütte oder schleiche durch eine heruntergekommene Klinik. Und immer ist da dieses Unbehagen in der Bauchgegend, dass mich die Spukgestalt erwischen wird. Denn bekämpfen kann man sie nicht, Flucht oder Verstecken sind die einzigen Möglichkeiten. Zwar kann man mit einer alten Polaroid-Kamera die Gestalt kurz verwirren, aufhalten lässt sie sich aber nicht.
Für Genre-Kenner liegt es auf der Hand: Die Macher haben sich sichtlich von «P.T.» inspirieren lassen. «P.T.» war 2014 ein spielbarer Teaser von Hideo Kojima, bei dem am Schluss ersichtlich wurde, dass er den Horror-Titel «Silent Hills» auf den Markt bringen wird. Doch es kam alles anders und das Projekt wurde eingestampft. Bis heute wird dieser spielbare Teaser aber innig verehrt.
Zurück zu «Infliction»: Wie erwähnt, die Macher waren von diesem kurzen aber intensiven Trip so sehr begeistert, dass sie viele Dinge aufgriffen und in ihr eigenes Spiel packten. Die immer wieder auftauchende Geisterfrau, die engen Korridore, die sich oft wie ein ewiges Labyrinth anfühlen und die sich verändernden Bilder an den Wänden sind nur ein paar Beispiele. Das längliche Telefonmöbel scheint direkt aus «P.T.» zu stammen und wer die quietschende Lampe im Flur betrachtet, wird ein weiteres Déjà-vu erleben. Fans bekommen aber mit «Infliction» nicht nur eine schaurig schöne «P.T.»-Hommage spendiert, sondern ein Spiel, das sich mit Themen Alkoholismus, Depressionen und häusliche Gewalt befasst.
Viele emotionale Abgründe werden nur angedeutet, etwa durch verstörende Zeichnungen, zerfetzte Erinnerungen die aufflackern, traurige Sprachnachrichten oder markerschütternde Kinderschreie, die plötzlich aus einer Ecke kommen. Natürlich gibt es in diesem Horror-Spiel auch ein paar klassische Schreckmomente, wo das Herz in die Hose rutscht, doch die Beklemmung nagt sich hauptsächlich im Unterbewusstsein der Spieler fest.
Immer tiefer und tiefer sinkt man in ein Familiendrama hinab, das schreckliche Dinge offenbart. Ein fratzenhaftes Bild, ein sich bewegendes Kinderspielzeug oder mit leeren Bierdosen überfüllte Möbel bieten eine permanente Gänsehaut. Und wenn man denkt, dass es nicht noch schlimmer, intensiver werden könnte, holen die Macher nochmals kräftig Anlauf und lassen noch tiefer in menschliche Abgründe blicken, das es einem die Kehle zuschnürt.
Fazit: «Infliction» geht unter die Haut. Das Familiendrama nimmt immer mehr an Fahrt auf und der Psycho-Horror wächst und wächst. Spärlich beleuchtete Zimmer, eine schwebende Spukgestalt und gruselige Soundeffekte sind das eine. Doch das was diesen Trip so intensiv macht ist die Auseinandersetzung mit dem Spielcharakter, der immer mehr Abscheuliches hervorbringt, so dass einem die Haare zu Berge stehen.
Das Spiel ist definitiv nichts für schwache Nerven. Themen wie Alkoholismus, Depressionen und häusliche Gewalt stehen in dieser traurigen Familiengeschichte im Fokus. Je tiefer man buddelt und sich mit den herumliegenden Alltagsgegenständen und den einzelnen Räumlichkeiten beschäftigt, desto mulmiger wird es einem. Die Macher haben hier etwas ganz Besonderes kreiert, etwas Schreckliches, dem man sich nicht entziehen kann.
«Infliction: Extended Cut» ist erhältlich für Playstation 4, Xbox One und Nintendo Switch. Freigegeben ab 16 Jahren.