Im Falle von «Cyberpunk 2077» hat das auch damit zu tun, dass das polnische Studio CD Projekt RED mit «The Witcher 3: Wild Hunt» vor etwas mehr als fünf Jahren ein Spiel geschaffen hat, auf das damals alle gewartet hatten. Das Masstäbe setzte und die Spieler mit scheinbarer Leichtigkeit in eine Welt hineinzog, aus der mancher bis heute gar nicht mehr auftauchen will. Die Ankündigung, dass all das in die Zukunft transportiert werden solle, sorgte prompt für Schnappatmung bei der Fangemeinde. So was nennt man wohl selbst geschaffenen Erfolgsdruck.
So richtig spürbar wurde dieser Druck, als durchsickerte, dass man «Cyberpunk 2077» in der Ego-Perspektive würde spielen können. Es folgte der heute fast schon obligatorische Aufschrei in den Internetforen. Würde das lang erwartete SciFi-Spektakel am Ende eine Art «Call of Duty» in einer «Blade Runner»-Kulisse werden?
Auf diesen Holzweg, das darf man vorwegnehmen, haben sich die «Cyberpunk 2077»-Macher nicht begeben. Bei einer exklusiven vierstündigen Anspielsession in Hamburg konnten wir uns davon überzeugen, dass das am 19. November 2020 erscheinende Spiel ganz unterschiedliche Elemente zu einem komplexen Ganzen verbindet. Dabei steht vor allem eine Grundidee im Vordergrund: die Freiheit des Spielers. Das beginnt mit der Spielfigur, die man bis ins kleinste Detail selbst konfigurieren kann, wortwörtlich bis hin zu dem, was er oder sie in der Hose hat. Direkte Auswirkungen auf das Spielgeschehen sind in diesem Fall fraglich, und man darf sicher kritisch nachfragen, was solch Detailverliebtheit eigentlich für einen Sinn hat, wenn man die Spielfigur ohnehin meist nicht zu sehen bekommt?
Diese Frage lässt sich letztlich nur beantworten, wenn man weiss, wie sich die umstrittene Entscheidung der Entwickler im Spiel tatsächlich anfühlt. Deshalb also die exklusiven Anspielevent unter extrem hohen Sicherheitsvorkehrungen.
Beim Event in Hamburg merken wir recht schnell, dass sich CD Projekt RED auch dabei etwas gedacht haben. Zunächst einmal wirkt sich die Zeit, die man mit dem Konfigurieren des eigenen Erscheinungsbildes zubringt, direkt auf die Identifikation mit dem Hauptcharakter aus. Noch während du die Körperstatur, die Gesichtszüge und die besonderen Merkmale wie die äusserlich sichtbaren Implantate (dazu weiter unten mehr) festlegst, denkst du unwillkürlich darüber nach, was für ein Typ dein spielerisches Alter Ego eigentlich sein soll.
Dem tragen die Entwickler auch später noch Rechnung, indem sie sämtliche Kleidungsstücke durch Erweiterungsslots konfigurierbar machen. «Selbst ein simples T-Shirt kann die eigenen Statuswerte genauso verbessern wie eine Hightech-Rüstung», erklärt der fast während unserer gesamten Spielzeit mit anwesende Level Designer Miles Tost:
Noch wichtiger aber sind die Effekte der Ich-Perspektive auf den räumlichen Eindruck. In «Witcher 3» konnte man Geralts ganze Pracht samt dem Hinterteil seines stolzen Rosses Plötze stets von hinten bewundern. Diese Perspektive ist perfekt, um die weiten Landschaften Temeriens in Szene zu setzen: Hier ist alles den Aufbruch in das Unbekannte verheissende Weite, die Landschaft wird selbst zum Sinnbild des Abenteuers, das ausgebreitet vor einem liegt.
Ganz anders gestrickt ist Night City, das allein schon flächenmässig viel kleiner ist als die apokalyptischen Landschaften von «Wild Hunt». Stattdessen bekommen wir es in «Cyberpunk 2077» mit teilweise extrem verschachtelten, vielstöckigen Gebäudekomplexen zu tun. Die Stadt ist als eine Art digitales Miniatur-Honkong angelegt, das von NPCs und interaktiven Elementen nur so wimmelt.
Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass Night City der heimliche Hauptprotagonist von «Cyberpunk 2077» ist. Die Designer haben hier ihre eigene Vision einer von korrupten Politikern, Gangs, organisiertem Verbrechen und Megakonzernen regierten Zukunftsmetropole entworfen, deren unterschiedliche Stadtteilen die krasse soziale Ungleich erbarmungslos spiegeln. Im Stadtzentrum strotzen die Fassaden nur so von Neonreklamen, Firmenschriftzügen und Werbetafeln. Für deren Design und die darin verborgenen Anspielungen, Gags und Hinweise war ein ganzes fünfköpfiges Team zuständig.
Doch diese Kulisse ist nicht gebaut, um sie in langen Tagesmärschen zu durchstreifen. Es ist eine Umgebung, die förmlich dazu einlädt, Hals über Kopf in sie einzutauchen, sich in ihre Eingeweide zu wühlen und eins mit ihr zu werden. Zu vergessen, dass man selbst einen Körper hat. Dieser Effekt ist nur mit Hilfe der First-Person-Ansicht zu haben, alles andere wäre nur störend. Damit man trotzdem nicht alles zu Fuss machen muss, wartet «Cyberpunk 2077» mit einer grossen Auswahl futuristischer Autos auf, mit denen man durch die neonbeleuchteten Strassen cruisen kann. Obwohl es, wie uns Level Designer Miles Tost verrät, später im Spiel auch noch Autorennen geben wird, sind die Fahrzeuge in erster Linie Fortbewegungsmittel und keine das Gameplay darüber hinaus beeinflussenden Elemente.
Zeit, zumindest zwei der menschlichen Protagonisten vorzustellen. Welches Aussehen (und welches Geschlecht) man ihm (oder ihr) auch gibt: Man landet stets in der Haut eines Söldners namens V. Gleich zu Beginn entscheiden wir uns für den Weg des Nomad, ein Gang-Mitglied, das trotzdem sein eigenes Ding durchzieht. Alternativ hätten wir noch Street Kid, einen erfahrenen Krieger des urbanen Dschungels, und Corporate, einen mit Cyberware vollgepackten Agenten, wählen können. Der wird im folgenden Prolog seinen Sidekick Jackie Welles kennenlernen, der ihn fortan als stets bestens gelaunter Buddy und Berater in allen Lebenslagen begleiten wird. Jackie ist eine der wenigen alternativlosen Elemente im Spiel. Zum Glück kommt der Koloss recht sympathisch rüber, sodass man damit auf Dauer ganz gut klarkommen sollte. Zumal Jackie später keinen Einfluss darauf nimmt, wie du deine Missionen löst und deinen Charakter weiterentwickelst.
Einer der ersten Wege im Spiel führt V in der Werkstatt eines zwielichtigen «Ripperdocs», technikaffine Quacksalber, von denen man sich mit diversen Implantaten ausstatten lassen kann, die Vs körperliche, geistige und technische Möglichkeiten im Laufe des Spiels enorm erweitern.
Das sind zu Beginn eine Handerweiterung, die das Handling von Schusswaffen verbessert, sowie eine Augenmodifikation, die es dir erlaubt, Menschen und Umgebungen zu scannen. Wie du V später weiter um- und ausbauen lässt, bleibt ganz dir selbst überlassen. Eine der grossen Stärken von «Cyberpunk 2077» ist, dass den Spieler entscheiden lässt, welches Spiel er spielt: einen Shooter, einen Cyberthriller à la «Watch Dogs 2» oder ein Stealth-Adventure mit Anleihen bei so unterschiedlichen Titeln wie «Metal Gear Solid», «Splinter Cell» und «L.A. Noire». Wie Level-Designer Miles versichert, haben er und seine Kollegen grössten Wert darauf gelegt, dass sich jede Aufgabe und jede Situation stets auf viele ganz unterschiedliche Arten bewältigen lässt.
«Cyberpunk 2077» basiert auf dem Pen-and-Paper «Cyberpunk 2020». Entsprechend startest du mit fünf Kernattributen: Body, Reflex, Intelligence, Technical Abilty und Cool. Letzteres entscheidet darüber, wie gut du dich in der jeweiligen Umgebung unbemerkt bewegst und wie viel du einstecken kannst. Jedes der Attribute hat seine eigenen perk trees, über die sich die damit verbundenen Fähigkeiten aufleveln lassen. So steigst du nach und nach im Level nach oben, entwickelst Street Credibility, erweiterst Waffen und Cyberware und stattest V mit weiteren passiven und aktiven Abilities aus.
Die Entwickler sprechen von einem «Fluid Class System», das einem grösstmögliche Freiheit über den eigenen Spielstil lassen und am Ende zu einer ganz individuellen Version von V führen soll.
Wie gross die spielerische tatsächlich Freiheit ist, konnten wir im weiteren Verlauf unserer insgesamt vierstündigen Schnupperreise nach Night City selbst erfahren. Beschränkt sich das Geschehen zu Beginn noch auf Fahren von A nach B und ein paar Schiessereien und Kämpfe, wird es schon recht bald deutlich komplexer. Wir erhalten einen Auftrag von dem «Fixer», wie die Halbwelt-Protagonisten genannt werden, die in Night City die Fäden ziehen.
Um einem verschuldeten Kumpel – den Barkeeper von einem von Vs Stammkneipen, so jemanden muss man sich natürlich warmhalten – aus der Klemmer zu helfen, müssen wir eine private Ermittlerin aufsuchen, die bei ihrer Arbeit offenbar den falschen Leuten auf die Füsse getreten ist. Dazu müssen wir sie aber erst einmal finden. Bei der Fahrt durch die Strassen von Night City wirken die knallbunten Fassaden kompakt und abweisend. Bald jedoch stellt man fest, dass es überall Durchgänge gibt, die mal zu verborgenen Treppen und Räumen, mal zu Hinterhöfen, Atrien und weiteren Gebäudekomplexen führen. Diese «versteckten Juwelen», wie Miles sie nennt, lösen immer wieder eine Euphorie aus, wie man das von den versteckten Gräbern in «Tomb Raider» kennt.
Als wir die Gesuchte dank unseres Scannerimplantats endlich ausfindig gemacht haben, zeigt diese sich wenig kooperativ. Der folgende Dialog beziehungsweise unser Charisma und unser Verhandlungsgeschick entscheiden darüber, ob es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommt oder nicht. Wir tun allerdings gut daran, die Meinungsverschiedenheit friedlich beizulegen, denn gegen die mit allerlei Implantaten gepimpte Dame haben wir zum jetzigen Zeitpunkt kaum Chancen.
Die Szene ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Level Design mit den verschiedenen Ebenen des Gameplay spielt, uns alle Freiheiten lässt und doch von Zeit zu Zeit mit sanfter Gewalt dazu zwingt, einen anderen Weg einzuschlagen als den, den wir spontan gehen würden.
Das Überspringen von Zeit und Raum spielt auch eine Rolle bei einem ziemlich einzigartigen Feature, dem so genannten «braindance», in dessen Geheimnisse wir im Rahmen einer Mission der Haupthandlung eingeführt werden. Die populärste Form der Unterhaltung im Jahre 2077 wird nämlich die Möglichkeit sein, sich mittels digitaler Aufzeichnungen in die Erinnerungen bestimmter, mit einem entsprechenden Implantat ausgerüsteten Personen einzuklinken.
Wer sich noch an Kathryn Bigelows SF-Thriller «Strange Days» aus dem Jahr 1995 erinnert, dem wird die Idee bekannt vorkommen. Pornografische Werke gehören im Geschäft mit den Second-Handy-Erinnerungen noch zu den harmlosen Vergnügungen. Nicht selten werden nämlich Verbrechen allein deshalb begangen, um die Nachfrage nach allerlei kranken Snuff Movies bedienen zu können. Kein Wunder, dass bestimmte Aufnahmen schnell zur brandheissen Ware werden, die viele ausfindig machen wollen, mindestes ebenso viele aber gerne verschwinden lassen würden.
Praktischerweise nehmen die Braindance-Implantate das Geschehen nicht nur aus einer Perspektive, sondern als Virtual Reality mitsamt Bild, Ton und Erschütterungen auf. Für V und damit die Spieler bedeutet das, dass er, einmal in Besitz einer solchen Aufzeichnung, dunkle Machenschaften aller Art aufdecken kann, wenn er das Material nur aufmerksam genug sichtet und Sherlock-Holmes-mässig Anhaltspunkten nachgeht. Laut Miles war die Gestaltung dieses Features extrem aufwändig – zu aufwändig, um nicht eine zentrale Rolle innerhalb des Gameplays zu spielen. Es begegnet einem des Öfteren innerhalb der Hauptstory, wer Gefallen daran findet, kann sich darüber hinaus auch in diversen Nebenmission auf die Jagd in der virtuellen Realität begeben.
Ganz in der Tradition von «Witcher 3» ist es den Entwicklern von CD Projekt RED augenscheinlich extrem wichtig, eine Geschichte zu erzählen, ohne die Freiheit der Spieler zu beschränken. Dabei trägt die Ego-Perspektive wesentlich zur Identifikation mit V bei – zum dem Preis, dass er dir erst einmal merkwürdig fremd bleibt. Das Geheimnis ist: Du musst ihn durch sein Erscheinungsbild, deine Entscheidungen in den Dialogen, den gewählten Implantaten und dem Stil, mit dem du Probleme innerhalb der Spielwelt löst, selbst mit Leben füllen!
Bis es so weit ist, wird es allerdings noch etwas dauern, doch Miles versichert uns, dass es nur noch um Feinarbeiten und das Beseitigen des einen oder anderen Bugs gehen. Beim Anspielen wirkte die PC-Version tatsächlich schon ziemlich komplett, ein paar Zwischensequenzen fehlten noch und einmal konnte unser V nur noch unsichtbar am Boden kriechen, was bei den Entwicklern allerdings eher für Heiterkeit als für echte Besorgnis sorgte. Miles betonte mehrfach, dass eine weitere Verzögerung nicht zu befürchten sei.
Ansonsten ist alles, was zu einem echten Hit gehört, ist bereits da und berechtigt unserer Meinung nach zu den allergrössten Erwartungen.