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Hilft die «Bildschirmzeit»-Funktion des iPhones gegen Handy-Sucht? Ein Selbstversuch

Das Handy nimmt (zu) viel Raum ein im Leben der digital vernetzten Menschen des 21. Jahrhunderts. 
Das Handy nimmt (zu) viel Raum ein im Leben der digital vernetzten Menschen des 21. Jahrhunderts. bild: reddit
Analyse

Hilft die neue «Bildschirmzeit»-Funktion des iPhones gegen Handy-Sucht? Ein Selbstversuch

Unserem Autor geht es wie vielen Menschen: Er hat manchmal Mühe, das Smartphone aus der Hand zu legen. Eine neue Funktion bei iPhones und Android soll dabei helfen. Ein Selbstversuch.
08.10.2018, 09:0608.10.2018, 09:22
Raffael Schuppisser / Schweiz am Wochenende
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Dass ich gescheitert bin, weiss ich, als ich meiner Schwester in einer Textnachricht viel Erfolg für den neuen Job wünschen will, sich WhatsApp aber nicht mehr öffnen lässt. Mein Zeitbudget für soziale Medien ist für den heutigen Tag bereits aufgebraucht. Ich nerve mich über die Dutzenden Minuten, die ich heute auf Twitter und Facebook vergeudet habe. Eine einzige davon würde mir jetzt reichen, um die wichtige Nachricht zu schreiben. Doch das System gewährt keine Ausnahme, unterscheidet nicht zwischen sinnlosem Zeitvertreib und wichtiger Nachricht. Soziale Medien ist soziale Medien.

Seit zwei Wochen nutze ich die neue Funktion «Bildschirmzeit» auf meinem iPhone (das neue Betriebssystem iOS12 ist erforderlich), um meinen Smartphone-Konsum zu kontrollieren. Ziel ist es, mich während Alltag und Arbeit weniger vom omnipräsenten digitalen Rauschen ablenken zu lassen. Dafür habe ich für die Nutzung von sozialen Medien und Games ein Limit von 30 Minuten eingerichtet, sowie eine bildschirmfreie Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.30 Uhr festgelegt.

Alle sechs Minuten am Handy

Schon länger gibt es zwar Apps, mit denen sich die Smartphone-Nutzung überwachen lässt. Dass nun aber sowohl Apple als auch Google solche Funktionen in ihre Software integrieren, ist bemerkenswert. Es ist ein Statement der beiden Tech-Riesen, sich um das digitale Wohlbefinden ihrer Nutzer kümmern zu wollen. Eines, das natürlich nicht ganz freiwillig erfolgt. Die negativen Folgen der Technik auf unsere Gesellschaft sind das Technik-Thema des Jahres. Es gibt sogar ein eigenes Wort dafür: den «Techlash». Eine Zusammensetzung aus «Technologie» und «Backlash», ein Rückschlag der Technik-Branche also.

Bist du auch Smartphone-süchtig?

Kinder, die gamesüchtig sind, Teenager die in sozialen Netzwerken gefangen sind und soziale Störungen entwickeln, Manager, die ihre Finger nicht mehr vom Smartphone lassen können und in Burnouts schlittern – all das hat uns die technologische Entwicklung auch gebracht. Und dagegen formiert sich vermehrt Widerstand. Zur Speerspitze der Techlash-Bewegung gehören ausgerechnet ehemalige Mitarbeiter der Tech-Konzerne. Justin Rosenstein etwa, der 2009 für Facebook den Like-Button erfunden, und damit die Anziehungskraft des sozialen Netzwerks um ein Vielfaches vergrössert hat. Oder Tristan Harris und James Williams, die für Google an neuen Technologien getüftelt haben, ehe sie die Non-Profit-Organisation «Time Well Spent» ins Leben riefen, um den gesellschaftlichen Umgang mit Technologie zu thematisieren. Die Designer der digitalen Wunderwerke werden selber zu Warnern.

Tipps für einen gesunden Umgang mit dem Handy

  • Trage eine Armbanduhr. Dann greifst du nicht jedes Mal zum Handy, wenn du nach der Zeit schaust. Stelle einen Wecker ins Schlafzimmer und lass das Smartphone draussen. So ist das Display deines Smartphones nicht mehr das Letzte, was du am Abend siehst, und auch nicht mehr das Erste, was du am Morgen zu Gesicht bekommst.
  • Deaktiviere Pushmeldungen (lässt sich in den «Einstellungen» für jede App einzeln regeln). Und schiebe Apps, die immer wieder unnötig deine Aufmerksamkeit erheischen, auf die zweite Seite deines Startbildschirms.
  • Beantworte Textnachrichten nicht ständig, sondern lege dir in deinem Alltag ein Zeitfenster dafür fest. So kannst du das Gerät längere Zeit weglegen.
  • Setze dir selber ein Limit für bildschirmfreie Zeiten und den Konsum von nichtproduktiven Applikationen. Dazu kannst du bei Apple die Funktion «Bildschirmzeit» und bei neuen Android-Geräten die Funktion «Digital Wellbeeing» nutzen. Alternativ gibt es zahlreiche Apps, die den gleichen Zweck erfüllen.

Darauf reagiert nun Apple mit der Funktion «Bildschirmzeit». Das hat durchaus etwas Widersprüchliches. Die Probleme der Technik sollen mit noch mehr Technik beseitigt werden. Kann das funktionieren?

Nun, der erste Schritt, um ein Problem zu lösen, besteht darin, es zu erkennen. Da kann eine akribische Aufzeichnung des eigenen Smartphone-Konsums helfen. In meinem Fall hat mich weniger beschäftigt, dass ich das Gerät teilweise fast drei Stunden nutze, sondern wie oft ich es in die Hand nehme. An einem Tag waren es 117-mal. Zieht man die bildschirmfreie Zeit in der Nacht ab, bedeutet das, dass ich es alle sechs Minuten entsperre.

Eine Pushmeldung lesen, eine WhatsApp-Nachricht beantworten, schnell den Kalender konsultieren, etwas nachschlagen, die Mails checken, kurz auf Twitter gehen, oder einfach aufs Handy schauen und sehen, dass keine Nachricht eingegangen ist – all das reisst mich immer wieder aufs Neue aus dem Hier und Jetzt. Statt das Smartphone zu kontrollieren, kontrolliert das Smartphone mich. Das kann nicht gesund sein. Das muss sich ändern, sagte ich mir.

Es ist wie mit allen Vorsätzen

Fortan überlegte ich mir, bevor ich zum Handy griff, ob das nun wirklich nötig sei. Dass ich damit Erfolg hatte, zeigte sich in meiner Nutzungsstatistik. Bald lag ich unter 100 Smartphone-Entsperrungen, dann bei 80 – was gemäss einer Studie der durchschnittlichen Nutzung entspricht. Auch mit der Eindämmung meines Social-Media-Konsums war ich vorerst erfolgreich. Ich hielt mich ans Zeitbudget von einer halben Stunde und teilte die mir zur Verfügung stehend Zeit entsprechend ein. Doch es ist wie mit allen guten Vorsätzen: Irgendwann gibt man sie auf. Nicht von einem Tag auf den anderen; das erfolgt schleichend.

Und so kommt der Alarm, dass ich mein Zeitlimit für soziale Medien überschritten habe, just in jenem Moment, in dem ich meiner Schwester über WhatsApp viel Erfolg wünschen will. Ich finde mich in einer überaus paradoxen Situation wieder: Eigentlich soll mir die Funktion «Bildschirmzeit» ja helfen, wieder die Kontrolle über mein Smartphone zurückzugewinnen. Stattdessen hat nun das Gerät abermals die Kontrolle über mich und verbietet mir, meiner Schwester zu schreiben.

Natürlich ist die Limitierung schnell wieder aufgehoben. Dennoch zeigt das Beispiel: Technik kann uns vielleicht unterstützen, um unsere Probleme in den Griff zu bekommen, lösen tut sie diese nicht. Doch auch das Umgekehrte gilt, nämlich dass die Technik allein noch keine Probleme schaffen kann. Es geht immer um den Umgang mit ihr. Wir sind den smarten Gadgets nicht bedingungslos ausgeliefert. Es ist Zeit, die Kontrolle wieder an uns zu reissen!

Ich ignoriere die Limitierung, die mein Handy mir auferlegt hat, und schreibe die Nachricht an meine Schwester. Das lasse ich mir nicht verbieten! Die Apps von Facebook, Instagram und Twitter, mit denen ich heute zu viel Zeit vergeudet habe, entferne ich von der ersten Seite des Startbildschirms und gruppiere sie in einem Ordner weiter hinten. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dann stelle ich den Flugmodus ein, lege das Handy weg und geniesse den freien Abend. (aargauerzeitung.ch)

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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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c-bra
08.10.2018 09:27registriert April 2016
Es ist wirklich erschreckend wie oft man genau solche Bilder wie oben mit den vier jungen Leuten beobachtet und sich teilweise selbst darin wiederfindet.

Haben nun schon ein paar mal "Regeln" aufgestellt, wenn wir mit Freunden an einem Tisch sitzen. alle Handys verkehrt herum in die Mitte des Tisches, wer seines zu erst anfasst bezahlt die nächste Runde. Man realisiert dann schnell, wie unwichtig das Mobilteil ist und fasst es erst an, wenn man die Gruppe verlässt. :-) klappt ganz gut.
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Madison Pierce
08.10.2018 09:39registriert September 2015
Der Tipp, das Smartphone nicht mit ins Schlafzimmer zu nehmen, ist sehr gut. Hatte früher immer das Tablet auf dem Nachttisch. Vor dem Einschlafen noch kurz was nachschauen und dann wurde es eine mehrstündige Wikipedia-Session...

Seit einigen Jahren bleiben Geräte mit Netzwerkzugang draussen. Und am Morgen wird zuerst geduscht und dann auf das Smartphone geschaut.

Funktioniert wirklich gut, schon nach ein paar Tagen habe ich es nicht mehr vermisst im Schlafzimmer.
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jjjj
08.10.2018 09:29registriert Dezember 2015
Und was soll das denn bringen?

Früher habe ich während zwei Stunden am Stück Zeitung gelesen am Sonntag. Jetzt hole ich mir die gleichen News online am Handy. Und das ist jetzt problematischer als vorher?
Versteh ich nicht...
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