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Justiz

Geschichte eines Familiendramas: Leon beginnt Fragen zu stellen

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illustration: Philip Schaufelberger
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Eltern im Knast, Schwester tot – und Leon beginnt Fragen zu stellen: Die Geschichte einer Familientragödie (2/2)

Eine junge Familie aus Deutschland sucht ihr Glück in der Schweiz. Vier Jahre später sitzen die Eltern im Gefängnis. Die Tochter ist tot. Und der kleine Sohn beginnt, Fragen zu stellen.
24.03.2016, 11:2525.03.2016, 12:36
joel bedetti / coup
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Die Namen aller Personen wurden geändert.

Als die Polizei Dimi wegen Verdachts auf Tötung zur Fahndung ausschrieb, war er bereits auf dem Weg in die Heimat.

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Am späten Abend des Freitags, 8. Februar 2013 stand Dimi vor der Tür seiner Eltern im schwäbischen Göppingen. Er wischte sich den Schnee vom Mantel, erinnert sich seine Mutter, aber er schaute sie nicht an. Dimi sagt, er wisse fast nichts mehr von diesen Tagen. Nur noch, dass sie am Sonntag seinen Vater in der Klinik besuchten. Am Abend fuhr Dimi zu seiner Familie nach Balterswil zurück. Er habe sich ja stellen wollen, meint Dimi. Aber er habe geahnt, dass es nicht mehr lange dauern würde.

Am Montagmorgen, erinnert sich Dimi, sagte er Diana: «Wenn sie kommen, weisst du von nichts.» – «Von was redest du?», erwiderte sie. Kurz bevor Dimi zur Nachmittagsschicht im Werk hätte aufbrechen müssen, fuhr die Polizei vor. In der Wohnung fanden die Beamten 13'000 Franken im Schrank und 4000 Franken in seiner Jacke. Im Verhör der Kriminalpolizei gestand Dimi nach wenigen Minuten unter Tränen, Chang getötet zu haben.

Wieso er Chang die Kleider ausgezogen habe, fragten die Polizisten.

«Ich weiss es nicht», antwortete Dimi.

Wieso er das Geld genommen habe.

«Ich weiss es nicht», antwortete Dimi.

Die Pflichtverteidigerin, die ihn am nächsten Tag besuchte, sah ihren Mandanten in der Arrestzelle kauern. «Das erste, was ich dachte, war: Das ist jemand, bei dem was ganz schief gelaufen ist», sagt sie.

Das psychiatrische Gutachten über Dimi hält fest: Aufgewühlt, bemüht um introspektive Haltung, geringe Rückfallgefahr. Dimi habe wegen dem Kiffen und dem Stress in der Familie unter Druck gestanden. Schuldunfähig, sagen die Psychiater, sei er deswegen aber nicht gewesen.

Im Mai 2014, 15 Monate nach der Verhaftung, wurde Dimi wegen vorsätzlicher Tötung zu 13 Jahren Haft verurteilt. Zugute hielten ihm die Richter einzig, dass er geständig war und keine Vorstrafen hatte.

Diana kam nicht zum Prozess.

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illustration: philip schaufelberger

Helikopter

In Balterswil sprach sich schnell herum, weshalb die Polizeiautos Dimi mitgenommen hatten. Entweder bist du nun eine Freundin oder nicht, dachte die Nachbarin Hanna Winter und ging hinüber. Diana öffnete. «Sie war fix und fertig, sie wollte sich von Dimi schieden lassen», erzählt Winter. Und sie fürchtete, dass man sie im Dorf schon als «Mördergattin» bezeichnete.

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Winter ging mit ihr aufs Sozialamt, um ein Notdossier zu eröffnen. Die Miete musste bezahlt werden, Dimi hatte offene Rechnungen hinterlassen. Die Nachbarn kauften für Diana ein. Auch Dimis Eltern boten Hilfe an. Doch Diana packte Dimis Sachen in Säcke, seine Eltern mussten sie abholen.

Diana wollte so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkehren. «Wieso gehst du zurück», sagte ihr Hanna Winter, «du hast hier gute Nachbarn, Sara ihre Freundinnen.» Ein paar Tage später fuhr der Zügelwagen vor. Die Nachbarn sammelten ein paar hundert Franken für die Rückkehr in die Heimat.

Diana zog mit der zehnjährigen Sara und dem einjährigen Leon nach Gosbach, 20 Autominuten von ihrer Heimat Gingen entfernt. Den neuen Nachbarn stellte sie sich als geschiedene Mutter vor. Die Familie lebte von Hartz IV, an Weihnachten schickten die alten Nachbarn aus Balterswil nochmals Geld. Diana bedankte sich mit einer Karte und schrieb, es sei schon eng, damit könne Sara wieder mal ein Klassenlager besuchen.

Auch Dimi schickte von dem Geld, das er als Küchenhilfe in der Untersuchungshaft bekam. Doch Diana antwortete nicht auf seine Briefe. Erst im Oktober 2013, ein halbes Jahr nach der Verhaftung, schrieb sie ihm. Sie versprach, künftig von den Kindern zu berichten. Sara gefalle es am neuen Ort in der Schule, auch wenn sie Mühe mit Rechnen habe. Leon sei gross geworden, Auto sei sein Lieblingswort. «Depressionen machen mir noch etwas zu schaffen, aber du musst dir keine Sorgen machen», schrieb Diana.

Als Dimi im Januar 2014 vom Untersuchungsgefängnis in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies nördlich von Zürich verlegt wurde, konnte er regelmässig mit seiner Frau telefonieren. Im April 2014 kam Diana mit Sara zu Besuch. Das erste Mal seit mehr als einem Jahr standen sie sich wieder gegenüber. Hinter der Rutsche in der Familienecke, wo die anderen sie nicht sahen, wollte Dimi sie umarmen. Doch Diana wollte nicht – noch nicht.

«Mama dreht langsam durch.»
Sara über ihre Mutter

Diana hatte zu dieser Zeit ein Verhältnis mit einem alten Liebhaber, das sie aber kurz nach dem Besuch wieder abbrach. Sie habe Dimi eins auswischen wollen, sagt sie später der Polizei. Wenige Tage nach der Urteilsverkündung im Mai 2014 kam Diana mit Sara wieder zu Besuch. Dimi sagte ihnen, dass er hoffentlich nach zwei Dritteln entlassen werde. «Cool, dann bin ich 18 und hol dich mit dem Auto ab», meinte Sara.

Auch Diana lächelte, sagt Dimi. «Es war schön. Noch nicht wie eine Familie, keine Küsse, aber schön.»

Sie telefonierten nun fast jeden Tag. Dimi realisierte, wie sich von seiner Frau eine andere Diana abspaltete. Diese Diana erzählte ihm von einem Shitstorm auf Facebook gegen sie, von Passanten, die sie an der Bushaltestelle und im Supermarkt fotografierten und auf sie zeigten.

Schon im Sommer 2013, kurz nach dem Umzug nach Deutschland, hatte sich Diana in eine Klinik einweisen lassen. Doch die Medikamente stoppten ihre Wahnvorstellungen nicht. Diana glaubte, aus den Helikoptern, die in der Klinik landeten, beobachtet zu werden.

«Mama dreht langsam durch», sagte Sara Dimi immer wieder am Telefon. «Sie braucht Hilfe.» Man half ihr ja. Diana liess Leon oft bei ihren oder Dimis Eltern, damit sie mit Sara Hausaufgaben machen konnte. Diana wollte eine gute Mutter sein. Sie hatte Angst, dass man ihr die Kleinen wegnehmen würde.

Sie küssten sich, sie knutschten richtig, erzählt Dimi, so dass sich Sara schämte. (...) Und er dachte: Vielleicht wird es doch noch gut. Wir biegen’s wieder hin.
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illustration: philip schaufelberger

Der letzte Kuss

Am 3. Oktober 2014 kamen Diana und Sara zum dritten Mal zu Besuch ins Pöschwies. Surreal war es, sagt Dimi. Diana sei wie verwandelt gewesen. Sie küssten sich, sie knutschten richtig, erzählt Dimi, so dass sich Sara schämte. Sie sei an allem schuld, meinte Diana, sie habe ihn zu allem getrieben. Das stimme nicht, erwiderte Dimi. Und er dachte: Vielleicht wird es doch noch gut. Wir biegen’s wieder hin.

Knapp zwei Wochen nach dem Besuch schrieb Dimi seiner Frau: «Ich würde mich unendlich darüber freuen, wenn ich mit dir alt werden könnte. Ich liebe dich so sehr, dass es für mich das Schönste wäre, unsere Kinder als liebendes Ehepaar aufwachsen zu sehen, als stolze Eltern auf ihren Hochzeiten zu tanzen, mit dir zusammen unsere Enkelkinder im Arm zu halten.»

Der Brief kam zu spät an.

Am Abend des 18. Oktober 2014 fuhr Diana mit Sara nach Balterswil, Leon war bei ihren Eltern. Diana rief Hanna Winter an, die ehemalige Nachbarin. Sie war auf einem Vereinsausflug und schlug vor Diana, bei den Facinis nebenan zu warten. Doch als Winter zuhause ankam, war Diana schon wieder auf dem Heimweg. «Jetzt kehrst du um», befahl Winter am Telefon. «Es wird einen Grund haben, wieso du gekommen bist.» Diana kehrte um.

«Es wäre für mich das Schönste, unsere Kinder als liebendes Ehepaar aufwachsen zu sehen, als stolze Eltern auf ihren Hochzeiten zu tanzen mit dir zusammen unsere Enkelkinder im Arm zu halten.»
Dimi in einem Brief an Diana

An diesem Abend, sagt Hanna Winter, als sie am Küchentisch Tee tranken und Sara mit ihren Jungs Fernsehen schaute, sei ihr das Ausmass von Dianas Verzweiflung zum ersten Mal klar geworden. Das schwarze Loch, das sie einsog. «Jede neue Rechnung war eine Katastrophe.» Diana erzählte ihr von Selbstmordgedanken. «Was hält dich denn hier?», fragte Winter. «Die Kinder», meinte Diana.

Diana und Sara schliefen bei Winters. Um fünf Uhr morgens fuhren sie los, um Leon pünktlich um acht bei Dianas Mutter abzuholen, denn Diana wollte eine zuverlässige Mutter sein. Um 11 Uhr rief Dimi sie an. Sie erzählte ihm von Selbstmordgedanken. Dimi beschwor Diana, sich wieder in die Klinik einweisen zu lassen.

Zum Mittagessen kehrte Diana mit den Kindern zu ihren Eltern zurück. Sie kratzte sich ständig, sagten diese später der Polizei, sie war abwesend. Ihr Vater packte sie ins Auto, auch er wollte sie wieder in die Klinik bringen. Aber Diana überzeugte ihn zur Umkehr. Wenn sie sich nochmals einweise, meinte sie, würde man ihr die Kinder wegnehmen.

Zu diesem Zeitpunkt, hält das Gerichtsurteil fest, hatte Diana sich entschieden.

Abends rief sie die Klassenlehrerin von Sara an und sagte ihr, dass ihre Tochter morgen nicht zum Unterricht erscheinen werde. Sie gab Sara eine Schlafpille mit dem Versprechen, zurück ins geliebte Balterswil zu fahren. Die zweite Pille löste sie in Leons Milch auf.

«Was hält dich denn hier?» fragte Winter. «Die Kinder», meinte Diana.

Mit den schlafenden Kindern auf der Rückbank fuhr Diana mit ihrem roten Fiat Punto zu einer Unterführung der A8 zwischen Ulm und Stuttgart. Sie stieg aus und stach auf die schlafende Sara ein. Sara erwachte und wehrte sich mit den Händen, deshalb waren die letzten der 26 Stiche nur Kratzer. Aber ihre Mutter hatte sie bereits zehn Zentimeter tief in Hals und Brust gestochen.

Diana ging ums Auto und stach auf den Kleinen ein, aber viel schwächer als bei Sara, vermutlich weil sie schon ausgepowert war. Die Wunden in Brust und Hals wurden bloss zwei Zentimeter tief. Als sich Leon nicht mehr bewegte, schnitt sich Diana die Pulsadern auf, jedoch quer statt längs, was sie nur leicht verletzte. Sie setzte sich das Messer an die Brust und stach zu, aber «ohne nennenswerte Kraft», wie im Gerichtsurteil steht.

Diana erklomm die Böschung zur Autobahn und rannte mehrmals über die Strasse in der Hoffnung, überfahren zu werden. Doch die Autos wichen aus. Ein Autofahrer bremste und forderte Diana auf, ihm das Messer zu geben, das sie noch immer in der Hand hielt. Diana gehorchte und bat den Autofahrer, die Polizei zu rufen, weil sie ihre Kinder getötet habe. Die Polizisten fanden Sara halb sitzend, halb liegend zwischen Rück- und Vordersitz und Leon mit aufgerissenen Augen, gestikulierend.

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illustration: philip schaufelberger

Familienzimmer

Ende Juli 2015, neun Monate nach ihrer Tat, wird Diana zu neun Jahren wegen Totschlags verurteilt. Sie wird die Haft in einer geschlossenen Psychiatrie absitzen. Das Gutachten hält fest: Schwere Depression, aber keine Schizophrenie, deshalb nur bedingt schuldunfähig.

Dimi, der den Prozess am Fernsehen mitverfolgt, nervt sich über das Schlussplädoyer von Dianas Anwalt, der meint, Diana habe ihr Kind zu Tode geliebt. «So was Dummes», ärgert er sich. «Liebe wäre es gewesen, wenn sie Sara nur mit Pillen getötet hätte. Nicht 26 Mal mit dem Messer.»

Wie Dimi seine eigene Tat einschätzt, wechselt von Tag zu Tag. Manchmal redet er davon, dass er mit sich ins Reine kommen müsse, mal gibt er einem das Gefühl, ihm sei einfach etwas Doofes passiert. Seine Strafe habe er verdient, meint Dimi. «Drei oder fünf Jahre wäre zu wenig für das, was ich getan habe.»

Er hat einen Brief an Changs Familie geschrieben, sich für das Leid entschuldigt, das er ihnen angetan hat. Das Böse schlummere nicht in ihm, sagt Dimi. «Ich bin im Grunde ein guter Mensch. Es waren die Drogen, die mich so weit brachten.»

Er macht jetzt eine Entzugstherapie.

Und wartet, bis die Zeit um ist. Sie vergeht so verflucht langsam da drin. Man vergisst da drin, wie alt man sei, sagt Dimi. Er ist 36. «Aber ich fühle mich noch immer wie 33, weil man keine neuen Erfahrungen macht. Ich werde mich wie 33 fühlen, wenn ich mit 40 hier rauskomme.»

Einmal nimmt Dimi einen Ordner mit den Familienfotos in den Besucherraum mit. Bilder einer glücklichen Kindheit, bunte Plastikbecher und angebissene Kuchenstücke, lachende, zur Kamera fliegende Blicke. Gruppenfotos, zuerst um Dimi, seinen Bruder Pavlos und ihre Eltern, die sich dann um Dimis eigene Familie erweitern, Diana, Sara, Leon – das Rad des Lebens.

Es dreht weiter, einfach anders als geplant. Dimi zeigt ein Foto von Leon, aufgenommen in der Klinik, in die jener nach Dianas Tat eingeliefert wurde. Leon, hübscher blonder Knabe, er lacht und spielt mit irgendwas, trägt aber ein Pflaster auf der Brust. Eine Narbe wird bleiben. Das Lid des rechten Auges ist gesenkt, weil eine Sehne durchtrennt ist. «Heute sieht man es nur noch, wenn er müde wird», sagt Dimi.

Jeden Monat fahren Dimis Eltern mit Leon zum Vater. Im Januar haben sie das Sorgerecht erhalten; sie sind zum zweiten Mal Eltern geworden. Als Dimi verhaftet wurde, war Leon kein Jahr alt. Nun ist er vier und geht in den Kindergarten.

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Dimi weiss nicht genau, was Leon in ihm sieht, in dem Typen, den er einmal mit den neuen Eltern immer wieder besucht. Er komme angerannt und umarme ihn, weil er spüre, dass der Mann was bedeutet, meint Dimi.

«Aber er checkt es nicht ganz, zumindest am Anfang. Erst nach fünf Minuten, da löst er sich.»

Dimi sieht Leon im Gefängnis aufwachsen. Er beobachtet, wie sich Leon von Besuch zu Besuch entwickelt, anders als die Grosseltern, die ihn jeden Tag um sich haben. Anfangs brabbelte er, das nächste Mal gab er schon Sätze von sich.

Zu Weihnachten hat ihm Dimi ein Dreirad geschenkt, das er in der Gefängnisschreinerei fertigte. Im September konnte Dimi erstmals das Familienzimmer buchen; eine kleine Wohnung mit Schlaf- und Wohnzimmer, damit Insassen Vater spielen können. Fünf Stunden waren sie drin, spielten Familie, die Wärter brachten Sandwiches und Getränke. Dimi und Leon bauten eine Deckenburg, die Eltern ruhten sich im Schlafzimmer aus.

Bei einem Besuch im Sommer meinte Leon, als im Besucherraum die Glocke erklang, «Komm doch einfach mit.» Dimi sagte, er müsse hier arbeiten.

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illustration: philip schaufelberger

Der Engel

Leon fragte anfangs oft nach Sara. Sie sei in den Himmel gegangen, erklärten sie ihm, sie sei jetzt ein Engel. Nach Mama hingegen, sagt Dimis Mutter, habe Leon noch nie gefragt. Das sei normal, habe der Kinderpsychologe gesagt. «Depressive Mütter leben wie hinter Glas, das Kind nimmt sie kaum wahr.»

In den Sommerferien auf Griechenland fragte Leon, ob sie seine Mutter sei. Nein, ich bin die Grossmutter, sagte sie. Leon fragte, wo denn die Mutter sei. Im Krankenhaus, sagte seine Grossmutter, wie mit dem Psychologen abgemacht. Mama ist im Krankenhaus, Papa bei der Arbeit, und Sara ist ein Engel.

Alle hoffen, dass Leon gar nicht viel mitgekriegt hat. Doch als er kürzlich einen roten Fiat in der Nachbarschaft sah, einen wie Diana ihn fuhr, sei Leon ganz angespannt gewesen, erzählt Dimis Mutter. Als er kürzlich seinen Grossvater haute, weil er was nicht kriegte, was er wollte, meinte der: «Willst du, dass ich in den Krankenwagen komme?» – «Nein», erwiderte Leon, «nicht wie damals, als ich ins Krankenauto musste.»

Mama ist im Krankenhaus, Papa bei der Arbeit, und Sara ist ein Engel.

Der Kleine findet langsam die Erinnerung. «Leon wird wachsen, er wird Fragen stellen», sagt Dimis Mutter. «Jetzt findet er das noch lustig, Schuhe ausziehen bei der Sicherheitsschleuse. Aber irgendwann kann man ihm nicht mehr sagen, dass Papa hier arbeitet.»

Seine Eltern seien ängstlich gewesen, erzählt Dimi, weil sie sehr jung waren, als er auf die Welt kam. Dimi wollte als Papa immer sein wie die Eltern seines besten Freunds Markus. Als sie kifften, erzählt Dimi, konnte Markus mit seinen Eltern darüber reden. Dimis Eltern hätten es einfach verboten – hätten sie davon gewusst. «Ich hasste es als Kind, wenn die Eltern sagten: So ist das einfach, das verstehst du nicht», sagt Dimi. «Wieso sollte ich das nicht verstehen?»

Seinen Sohn will er wie einen Erwachsenen behandeln. Wenn Leon mit sechs in die Schule geht, will ihm Dimi erklären, dass er einen Unfall gemacht hat und dass jemand dabei gestorben ist. Wenn Leon Teenager ist, will er ihm die Wahrheit sagen. Irgendwann in den Ferien vielleicht, am Meer.

Wenn Dimi wie erhofft im Jahr 2021 nach zwei Dritteln der Strafe freikommen wird, will er mit Leon in einem VW-Bus durch Europa reisen, möglichst viel von der verlorenen Zeit wettmachen. Leon wird dann neun Jahre alt sein.

Dimi hat alle Unterlagen von den Prozessen seiner Eltern gesammelt, in Ordnern abgelegt. «Leon wird wissen wollen, wie unser Leben früher ausgesehen hat», meint er. Wenn Leon seine Mutter später einmal sehen wolle, sei das seine Entscheidung. Er werde ihn sogar hinfahren.

Diana, heisst es im Gerichtsurteil, habe ihren Lebenswillen wieder gefunden. In erster Linie, um sich dereinst ihrem Sohn erklären zu können. In den Briefen an ihre Eltern fragt sie, wie es ihrem kleinen Engel gehe.

Sara ist der Engel im Himmel. Leon ist der Engel auf Erden.

Dimi sagt, seine Eltern liessen ihm zu viel durchgehen. Das Wochenende bleibt Leon manchmal bei Dianas Eltern; er kriegt viele Geschenke von ihnen.

Wenn Leon Teenager ist, will Dimi ihm die Wahrheit sagen. Irgendwann in den Ferien vielleicht, am Meer.

«Das bieg ich wieder gerade», sagt Dimi, der seinen Eltern einbläut, strenger mit dem Kleinen zu sein.

«Das arme Kind», meint Hanna Winter, die ehemalige Nachbarin in Balterswil, «alle verwöhnen es, alle wollen an ihm wieder etwas geradebiegen.»

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Einmal, genau einmal, will auch Dimi Diana nochmals sehen. Er will mit ihr reden, über das, was er getan hat, was sie getan hat. Doch zur Familie, sagt Dimi, gehöre Diana nicht mehr. Er will sich scheiden lassen. «Das Trennungsjahr hatten wir ja schon», meint Dimi, «hinter Gittern.» Die Papiere liegen bei seinem deutschem Anwalt. Noch diesen Frühling soll die Scheidung vollzogen werden.

Zu den Autoren
Joel Bedetti ist freier Journalist und Reporter
Philip Schaufelberger ist Illustrator

Du willst nochmal zurück?
>>> Hier findest du Teil 1 der Reportage
>>> Und hier das Interview mit Autor Joel Bedetti

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4 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
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Tom Garret
25.03.2016 21:12registriert Juli 2014
Jetzt bin ich traurig...
633
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Sveitsi
25.03.2016 21:21registriert Januar 2015
Interessanter, gut geschriebener Artikel!
543
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burgi.ch
25.03.2016 20:38registriert Oktober 2014
Ich habe schon die erste Geschichte, die kürzlich hier veröffentlicht wurde, gelesen und mir das Crowdfunding-Projekt angeschaut, doch irgendwie hat es mich damals nicht überzeugt.

Doch mit dieser Geschichte habt ihr mich gepackt :) Ich freue mich auf viele weitere spannende Reportagen, die ich dann mit meinem We-Make-It-Jahres-Abo lesen kann ;-)
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