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Paris: Was wollen wir für Menschen sein?

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Paris: Was wollen wir für Menschen sein?

15.11.2015, 16:4815.11.2015, 17:16
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Paris. Anschläge. Die Welt steht Kopf. Verständlicherweise. Die Anteilnahme ist riesig. Auch das ist verständlich.  

Was schreibt man nach solchen Geschehnissen? Ich will keine Analyse über die Täter schreiben, dazu fehlt mir die Expertise. Die Namen der Opfer kenne ich nicht – ich hätte sie hier sonst einen nach dem anderen aufgeschrieben. Was schreibt man also?  

Der deutsche Comedian Jan Böhmermann verfasste «100 Fragen nach Paris». Diese reichen von einem schlichten «Warum?» über ein «Wer will Krieg, diese Typen oder wir?» und «Warum bin ich Paris, wenn ich auch Beirut sein sollte?» bis hin zur Nummer 100, nämlich «Möchte ich lieber in einem Land leben, in dem ich alle Fragen stellen kann, aber nur auf wenige eine Antwort erhalte oder in einem Land, in dem ich nur wenige Fragen stellen darf, die aber beantwortet bekomme?» Nummer 85, 86 und 95 lauten allesamt: «Was sind das nur für Typen?»  

Böhmermann stellt fast alle Fragen, philosophisch wie politisch, die sich im Moment stellen – ausser eine: Was macht das alles eigentlich mit mir?  

Gestern stand ich im Supermarkt vor den Backwaren-Verzierungs-Artikeln – Silberchügeli, Marzipan, Regenbogenstreusel – und war auf einmal völlig überwältigt von der Nichtigkeit von allem, was ich tat, angesichts des Übels, das in der Welt passiert. In Paris, in Beirut, an unzähligen anderen Orten gehen Menschen vor die Hunde, müssen mit dem Verlust ihrer Kinder, Partner, Eltern fertig werden und ich stehe in der geheizten Migros und kaufe beschissene Regenbogenstreusel. Ich stand vor dem Regal und wurde wahnsinnig wütend und wusste nicht, auf wen genau – und das machte mich gleich noch wütender.  

Die Fragen an die Mächtigen dieser Welt wurden ja gestellt. Von Böhmermann und vielen anderen vor ihm. Immer wieder. «Imagine there’s no country...», erinnert ihr euch? Nach jedem Anschlag, jeder Flucht, jedem Krieg. «Warum tut ihr nichts, verdammt nochmal?», «Warum ist Krieg noch immer so verflucht rentabel?» und «Warum ist diese Rendite noch immer wichtiger als menschliches Leben?» So schreien wir nach oben, zurück kommt in der Regel wenig bis nichts. Das ist eine traurige Tatsache.  

Worauf wir Einfluss haben, sind wir. In unserem eigenen, kleinen Universum können wir Veränderungen herbeiführen. Im Kleinen zwar, aber ganz viele kleine Veränderungen ergeben grosse. Ich rede hier nicht konkret von Paris oder dem IS oder davon, dass wir uns gegen diese konkreten Mörder stellen, sondern ich rede von uns als Menschen, als Menschheit, die sich gegen Gewalt und Ungerechtigkeit auflehnt, nicht mit mehr oder schlimmeren Waffen als sie die anderen haben, sondern mit Menschlichkeit.  

Ich sage nicht, dass wir damit das Machtgefälle und den Terror in der Welt beseitigen und in Zukunft alle gemeinsam Kumbaya singen. Ich glaube aber, wir sind es all denjenigen schuldig, die täglich dem – zum Teil durch den Westen verschuldeten – Terror, der Gewalt und der Ungerechtigkeit zum Opfer fallen, uns selbst und unser Verhalten ab und an zu hinterfragen. Das ist das Einzige, was wir konkret tun können.

Natürlich kann man sagen, dass das naiv sei und dass dadurch genau rein gar nichts verändert werde. Das ist gut möglich. Ich mache aber lieber das, was innerhalb meiner Möglichkeiten liegt, als brüllend gegen Windmühlen anzukämpfen, denen meine Anliegen egaler nicht sein könnten. Oder einfach gar nichts zu tun, denn das ist immer falsch.  

Folgende Fragen beschäftigten mich in den letzten 48 Stunden. Wenn sich dadurch der eine oder die andere mehr Gedanken macht und sich nur ein bisschen etwas verändert, ist das schon mehr als nichts.  

1.   Kann man in unserem Ausmass an Wohlstand leben, ohne die Armut anderer aufrecht zu erhalten? Daraus resultiert Frage 2.

2.   Spende ich genug (innerhalb der Schweiz, ins Ausland, Altkleider, Schuhe)? Man kann da im ganz Kleinen anfangen. Zum Beispiel, indem man seine Cumulus-Punkte an bedürftige Familien spendet (Solikarte) oder ein 20er-Nötli pro Monat an die CARITAS oder Ärzte ohne Grenzen überweist.

3.   Schaue ich darauf, woher meine Kleider und andere Produkte kommen? Ich selber achte darauf noch immer zu wenig. Billigware zu kaufen (ohne zu müssen) bedeutet, das Elend von Menschen in armen Ländern zu unterstützen. Zu deutsch: Nein, ich brauche das H&M-Shirt für CHF 4.95 definitiv nicht.

4.   Bin ich mir meiner Privilegien bewusst? Ein Bewusstsein für die eigenen Vorteile bedeutet nicht, dass man sie aufgeben muss. Ich glaube aber, dass es ab und zu hilft, inne zu halten und aktiv wahrzunehmen, wie gut man es hat. Das tut einerseits der Seele gut und gibt einem andererseits ein Gespür oder Empathie für Menschen, denen es nicht so gut geht wie einem selbst.

5.   Versuche ich ausreichend, gewisse Konzepte zu verstehen? Oft hat man ein Bild von etwas. Zum Beispiel vom Islam. Man denkt, das sei ein ausreichend differenziertes Bild. Aber das ist es in den seltensten Fällen. Da sind oft doch noch Stereotypen und Fehlinformationen, die man irgendwann aufgelesen hat und nicht mehr losgeworden ist. Und ich rede hier selbstverständlich auch von mir selbst. Hier gilt: Bildung ist Macht. Und wenn man bloss einmal den gesamten (!) Wikipedia-Artikel zum Thema (welches auch immer es ist) liest – oft warten bereits da einige Aha-Erlebnisse.

6.   Wehre ich mich genug gegen Diskriminierung jeglicher Art? Sage ich laut und deutlich NEIN, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts benachteiligt werden oder wenn Schuld blindlings zugewiesen wird (wie es z.B. gerade nach den Pariser Anschlägen der Fall ist)? Und bediene ich mich dabei belegter Fakten (siehe Frage Nr. 5), nicht Emotionen?

7.   Welchen Stellenwert hat Angst in meinem Leben, wie sehr beeinflusst sie mein Weltbild und meine Entscheidungen und wenn mir etwas Angst macht (was viele Dinge völlig berechtigterweise tun), überprüfe ich es dann ausreichend auf seine Richtigkeit, bevor ich es als Tatsache annehme?

8.   Überprüfe ich Behauptungen anderer auch dann auf ihre Richtigkeit, wenn sie meine Meinung bestätigen?

9.   Diskutiere ich in anständiger Sprache mit meinem Gegenüber, ohne ihn/sie bereits von Anfang an als dumm oder naiv abzustempeln und begegne ich ihm/ihr mit Respekt, auch wenn ich ihn/sie überhaupt nicht mag oder verstehe?

10. Sage ich meinen Liebsten oft genug, wie sehr ich sie liebe? Katastrophen wie diejenigen in Beirut und Paris, der Tod vieler unschuldiger Menschen, hinterlassen ein Gefühl der Ohnmacht und der Leere. Es folgen Analysen und Schemata von Politik und Macht und Kalkül. Vergessen wir die menschliche Seite nicht. Vergessen wir die Opfer nicht. Vergessen wir ihre Familien nicht und nutzen wir die Gelegenheit, das zu tun, was sie nicht mehr können: Uns zu sagen, wie sehr wir uns lieben.

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Yonni Meyer
Yonni Meyer (33) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

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22 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tilia
15.11.2015 18:54registriert Oktober 2014
mit allem einverstanden ausser mit einem punkt: wir sollten endlich die machtgefälle ins auge fassen und das alles nicht länger tolerieren. ein paar wenige bestimmen über die schicksale der halben welt und wir schauen zu. die rüstunsindustrie setzt abermilliarden um. denkt ihr ernsthaft die haben ein interesse an frieden? krieg macht viele menschen reich und solange es krieg gibt, gibt es auch terror.
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Cheesus
15.11.2015 19:03registriert Juli 2015
Jetzt ist gerade die Blütezeit von Hobbypolitikern, -philosophen und -weltverstehern. Da tut ein solcher kluger Text zwischendurch mal richtig gut.
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teufelchen7
15.11.2015 19:53registriert November 2015
danke für den tollen beitrag :-D
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Valentina statt Valentinstag
Ich hatte eigentlich ein Date ausgemacht. Aber dann kam es anders.

Es war ja Valentinstag. Nicht, dass ich mir etwas aus Valentinstagen mache. Aber, wir erinnern uns: Ich war mit dieser hübschen Yogafrau zum Baden verabredet, nicht so entspanntes Rumschwaddern im Spermabad, wir wissen alle, wo das ist, ich muss das hier nicht explizit erwähnen, aber wir wären ja (leider) eh nicht dorthin gegangen, sondern in den See. Knappe 6 Grad. Eisig kalt, aber vielleicht gerade deshalb ultra hot.

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