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Frau B. und das Ende des Lebens

Frau B. und das Ende des Lebens

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5 Lektionen und die Magie der «alten Fräu».
18.01.2017, 10:3518.01.2017, 11:08
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Yonnihof Yonni Meyer

Frau B. sitzt im grossen Lehnstuhl am Fenster und schaut. Schaut, wie heute wenige schauen. Ohne Handy, ohne Unterbrechung. Schaut einfach hinaus ins Schneetreiben und das genügt ihr.  

Lektion 1: Genügsamkeit.
Lektion 2: Ab und an nur eine Sache aufs Mal machen. Kein Handy.
 

Immer wieder sehe ich sie, wenn ich meine Runden drehe in den schier unendlichen Korridoren des Spitals. Möchte nicht einrosten. Und immer wieder ist da Frau B. Irgendwann setze ich mich zu ihr und wir kommen ins Reden. Frau B. hat Krebs. Es ist kein Thema, um welches man hier herumtäppelt. Man ist ehrlich, schliesslich sitzt man, in irgendeiner Weise, im selben Boot – nicht, was die Schwere der Erkrankung angeht, aber ein jeder hat einen Grund, hier zu sein, jeder ist gleich gefangen. Man fragt direkt, was man hat. Und Frau B. hat Krebs.  

Frau B. ist alt. Sagt sie selber. «Ich bin en alti Fräu», wiederholt sie mehrfach in ihrem wunderschönen Walliserdeutsch. Ich schätze sie auf circa 75 Jahre. Ist das überhaupt alt?  

Man habe sie nun «ausgeräumt», sagt sie. Ob das den Krebs aufhalte, wisse sie nicht. Und die Ärzte auch nicht. Sie redet streng, aber wohlwollend über ihre Ärzte – als seien es Schulbuben – und ich stelle insgeheim die Vermutung auf, sie könnte Lehrerin gewesen sein. Später bestätigt sie mir diese Annahme.  

Frau B. ist klug, sie spricht wohlgewählte Sätze und erinnert mich an meine Grossmutter. In ihren Aussagen ist viel Weisheit – aus meinem Mund würden sie lächerlich klingen, doch das was sie spricht, würde ich am liebsten sofort aufschreiben. Es ist die Magie der «alten Fräu».    

Zu einem Zeitpunkt reden wir darüber, was am Lebensende Wichtigkeit hat. Ich sage ihr, dass ich der Ansicht sei, dass nicht alle Fragen beantwortet und nicht alles geklärt sein müsse. Sie antwortet mir: «Ich würde einen Schritt weiter gehen: Das Fragen an sich lässt nach. Früher habe ich viel gefragt, heute will ich gar nicht mehr soviel wissen.»  

Lektion 3: (Etwas) Weniger fragen. Nicht die Antworten, sondern das Fragen an sich reduzieren.

Frau B. fragt mich, wie ich mich zum jetzigen Zeitpunkt, mit knapp 35, fühlen würde, wenn ich sterben müsste. Ich antworte ihr erst bei unserem nächsten Treffen. Ich sage ihr, ich würde mir wünschen, sehr natürlich und frei mit diesem Thema umgehen zu können. In Dankbarkeit gehen zu können. Tatsächlich wäre ich wohl wütend, traurig, verloren. Frei nach Kübler-Ross. Ich denke, ich würde eine Art Neid auf alle verspüren, die weiterleben dürften, während ich würde gehen müssen. Dass der Laden hier unten einfach weiter läuft, obwohl ich nicht mehr da bin. «Ich wäre auch gerne noch etwas hier», sagt Frau B., «aber nicht so.» Sie zeigt an ihrem Körper hinunter. «Und nicht hier.» Sie zeigt den Gang entlang.

Ich und auch viele andere schreiben oft über den Tod als natürlicher Bestandteil des Lebens, dass wir ihn nicht zum Buhmann machen sollten, etc. «Wir sollten dies mit dem Tod, wir sollten das mit dem Tod», winkt Frau B. ab. Tatsache sei doch: Wir waren fast alle noch nie so nah dran, dass wir das wirklich beurteilen können. Wir können uns diesen natürlichen Umgang wünschen, wir können auch in natürlicher Weise über den Tod zu reden versuchen, und es ist ja auch schön, wenn uns dies ein Stück Angst davor nimmt – was unsere Seele/Psyche dann tatsächlich erlebt, können wir nicht wissen. Das kann auch bitter sein und schlimm und unfertig. Man kann noch so das Gefühl haben, im Reinen zu sein mit sich und dem Leben, wenns dann soweit ist, ists nochmal etwas ganz anderes.

Lektion 4: Es ist was es ist was es ist.

Ob ich denn nicht an einen Himmel glaubte, will Frau B. wissen, und ich sage ihr ehrlich, dass der Glaube an einen solchen Ort ein Geschenk sei, das ich noch nicht erhalten hätte. Was denn ihre Vermutung sei, wo sie denn hingehen wolle/hinzugehen glaube?  

Sie studiert lange und sagt dann, sie würde gerne mit Wohlwollen auf das Treiben hier unten herabschauen. Sie sei nicht religiös, aber dabei zuzuschauen, wie ihre Liebsten (sie hat 12 (!) Enkelkinder) sich entwickeln, das würde sie sich von Herzen wünschen. «Aber eigentlich», sagt sie nachdenklich, «sollte man sich diese Fragen schon viel früher stellen. Denn genau in der Weise, wie ich im Tod bei meinen Lieben sein will, sollte ich das auch schon zu Lebzeiten sein. Vielleicht wäre das ein guter Anfang für einen wohlwollenderen Umgang und ein friedlicheres Miteinander.»

Lektion 5: Nicht zu lange warten, gute versöhnliche Gefühle für andere Menschen zu entwickeln/zeigen.

Anm. d. Autorin: Die Gespräche mit Frau B. dauerten viel länger, beinhalteten auch Diskussionen übers Wetter und den Geschmack von Kontrastmittel. Dies sind lediglich kurze, sinngemässe Ausschnitte, die ich aus unserer kurzen Schwesternschaft mitgenommen habe.

Yonni Meyer
Yonni Meyer (34) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

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10 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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ShadowVolpe
18.01.2017 12:36registriert Oktober 2016
So ein schöner Text <3 Dir und Frau B. alles Gute! <3
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Pyp
18.01.2017 13:04registriert Januar 2017
Sehr schön geschrieben Yonni ♥
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Lichtblau
18.01.2017 22:28registriert Januar 2015
Ich hab das jetzt mal quasi auf Zehenspitzen lesend und mit angehaltenem Atem überflogen. Vielleicht weil ich ähnlich Ernstes im nächsten Umfeld erlebt habe, bin ich immer am Verdrängen. Aber eins ist klar: Yonni Meyer ist unter den hierzulande Schreibenden ein Solitär.
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70 Jahre Sex, Joints und Liebe! Happy Birthday, Papi!
Ich war, bin und werde wohl immer ein Papa-Kind sein. Sorry, Mum! Heute feiert besagter Superheld seinen 70. Geburtstag. Eine Ode an den Mann, der mich zu meiner besten Version geformt hat.

Man sagt ja, dass Männer quasi ihre Mütter und Frauen ihre Väter heiraten. Würde ich Sandro heiraten, wäre an dieser Floskel ganz definitiv was dran. Und das nicht nur, weil ich sowohl Sandro als auch meinen Papa Bruno von Herzen liebe.

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