Um die Weihnachtszeit ereignen sich in der Schweiz überdurchschnittlich viele Suizide. Das Fest der Liebe und der Familie ist für viele Einsame und Depressive eine jährliche Klippe, vor der sie sich fürchten, zumal sie die dunkle Jahreszeit ohnehin belastet.
Deshalb engagieren sich Freiwillige, die in diesen Tagen Brücken und Türme bewachten, um Verzweifelte am Springen zu hindern. Offenbar mit Erfolg.
Für alle Religionen ist das Leiden ein zentraler Aspekt des Glaubens. Sie versuchen, ihm einen Sinn zu geben und den Leidenden Trost zu spenden. Im Islam werden Märtyrer, die sich für Allah opfern und für ihn leiden, mit besonderen Ehren im Himmel empfangen und mit 72 Jungfrauen belohnt.
Im Buddhismus betrifft ein zentraler Lehrsatz das Leid. Buddha lehrte, alles Bedingte sei Leid. Konkret: Äussere Aspekte des Lebens und alle Bindungen an die Welt bedeuten Leid. Das Glück findet man im Spirituellen und Geistigen.
Im Christentum geht der Ursprung des Leidens auf die Erbsünde zurück, also auf Adam und Eva. Weil Eva – natürlich die Frau! – im patriarchalen biblischen System zuerst vom Baum der Erkenntnis (was für eine verräterische Idee) genascht hat, vertrieb sie Gott aus dem Paradies. Seither bestimmen Krankheit und Leiden das Leben auf der Erde.
Adam und Eva haben zwar vom Baum genascht, doch letztlich ist Gott für das Leiden der Menschen verantwortlich. Er hat bei der Erschaffung der Erde nicht nur das Paradies errichtet, sondern vorsorglich gleich noch die Welt des Leidens und die Hölle. Also ahnte er, dass Adam und Eva der Versuchung der Schlange nicht widerstehen können.
Noch mehr: In seiner Allmacht wusste er im Voraus, dass er Adam und Eva aus dem Paradies vertreiben und die ganze Menschheit dem Leiden aussetzen würde.
Stellt sich die Frage, was es Gott bringt, wenn er uns Menschen leiden sieht? Leidet er mit uns? Schliesslich hat er uns laut Bibel nach seinem Ebenbild geschaffen und stellt sich als liebender Vater dar. Wenn ja, warum tut er es sich an, die leidende Welt permanent vor Augen zu haben?
Ein anderer Erklärungsversuch: Ergötzt er sich etwa an unserem Leiden? Diese Version enthielte einen nachvollziehbaren Sinn: Gott ist wie wir Menschen nicht nur gut, sondern auch böse.
Diese Erklärung würde jedenfalls mehr Sinn machen als die Geschichte vom liebenden Vater, der viele seiner Kinder in die ewige Verdammnis verbannt, weil Adam und Eva einer Versuchung erlegen sind. Schliesslich gibt er uns bei sündigem Verhalten dem Teufel preis und lässt uns bis in alle Ewigkeit Qualen erleiden.
Natürlich muss man die Genesis nicht wörtlich nehmen, sondern kann sie allegorisch, also symbolhaft verstehen. Das ändert aber nichts an der Grundaussage oder dem Geist der Genesis: Weil Vater und Mutter einer Versuchung erlagen, werden alle ihre Nachkommen ins Jammertal verbannt und müssen allenfalls ewig leiden.
Dieses Leiden ist das Kapital der Religionen. Die christlichen Glaubensgemeinschaften bieten vermeintliche Rezepte, um der Hölle zu entgehen und den Himmel zu verdienen. Sie spenden Trost für das Leiden, indem sie dieses als Prüfung deklarieren, die zeitlich begrenzt ist. Teilweise wird das Leiden förmlich glorifiziert. Leiden für Jesus und seinen Vater, um das Leben zur Rechten Gottes zu erlangen.
Doch da die Geschichte von der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies nicht stimmig und plausibel ist, wirken auch Idee und Konzept von Himmel und Hölle an den Haaren herbeigezogen.
Weil Gott uns offensichtlich nicht hilft, das Leiden zu reduzieren, suchen wir Menschen selber nach Lösungen. Mit Hilfe der Wissenschaft und Technik finden wir erfolgreich Mittel und Wege, das Leiden zu verringern.
Den grössten Beitrag liefert dabei die Medizin. Sie hat in den letzten hundert Jahren das körperliche Leiden massiv reduziert. Erlitten zum Beispiel früher Patienten mit einem geplatzten Blinddarm höllische Schmerzen und starben womöglich, löst heute der Chirurg das Problem mit einem kleinen Eingriff.
Nicht umsonst betrachten wir Ärzte als Götter in Weiss. Damit schlagen wir Gott ein Schnippchen. Zumindest was unsere Existenz als Erdenbürger betrifft.