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Per Autostopp um die Welt

Per Autostopp um die Welt – Woche 84: Von Hermosillo nach Urique

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bild: thomas schlittler
Per Autostopp um die Welt

Huckepack mit Kindern und Männer mit Maschinengewehren

07.01.2017, 15:5307.01.2017, 16:03
Thomas Schlittler
Thomas Schlittler
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Tecoripa ist ein kleines, verschlafenes Kaff in der nordmexikanischen Wüste. Meine Freundin Lea und ich trotten an farbigen, einstöckigen Häuschen vorbei und schütteln den Kopf über eine Mülldeponie, die mitten im Dorf unter einer Brücke entstanden ist. Auf der anderen Strassenseite lehnen drei Typen an einer Hauswand. Sie beäugen uns mit neugierigen, misstrauischen Blicken – oder zumindest nehmen wir es so wahr.

Am Dorfende setzen wir uns auf unsere Rucksäcke und warten auf eine Mitfahrgelegenheit. Nach einer Viertelstunde fährt ein Pick-up-Truck der Polizei an uns vorbei ins Dorf. Es ist jedoch kein gewöhnlicher Streifenwagen: Auf der Ladefläche sitzt ein Polizist mit kugelsicherer Weste und Maschinengewehr.

Wir fühlen uns etwas unwohl bei dem Anblick, völlig geschockt sind wir aber nicht. Freunde in der Grossstadt Hermosillo, wo wir einen Monat lang Spanisch gebüffelt haben, hatten uns gewarnt: Unsere Route zur wunderschönen Kupferschlucht ist eine wichtige Verkehrsachse für den Drogenschmuggel in Richtung USA.

Wer auf Google nach Yecora und Narco (von Narcotrafico, Drogenhandel) sucht, stösst auf viele Morde und Leichen.
Wer auf Google nach Yecora und Narco (von Narcotrafico, Drogenhandel) sucht, stösst auf viele Morde und Leichen.bild: thomas schlittler

In Mexiko tobt ein blutiger Drogenkrieg. Beim Kampf der mexikanischen Behörden gegen Drogenkartelle und in den Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen sind in den vergangenen zehn Jahren rund 100'000 Menschen ums Leben gekommen.

Auch wenn man die Dörfer googelt, die wir in der vergangenen Woche passiert haben, stösst man auf Morde und Leichen. Die ganz grosse Mehrheit der Opfer sind jedoch Mitglieder eines Clans. Dass völlig Unbeteiligten etwas zustösst, kommt selten vor.

Die Menschen versuchen, ein möglichst normales Leben zu führen. Das zeigt auch eine Szene in Tecoripa: Als der vollbewaffnete Polizeiwagen das Dorf wieder verlässt, nimmt er eine ältere Frau und ein Kleinkind mit. Die beiden haben ebenfalls auf eine Mitfahrgelegenheit gewartet.

Wenig später geht die Reise auch für uns weiter, dank Lastwagenfahrer Joel. Als wir bei der Frohnatur in der Fahrerkabine sitzen, scheinen Drogenschmuggel und Maschinengewehre sofort weit weg. Joel kann alle traditionellen mexikanischen Lieder auswendig, die aus den Boxen trällern. Er singt mit, trommelt auf dem Lenkrad und scheint die kurvenreiche Fahrt völlig unbeschwert zu geniessen.

Lastwagenfahrer Joel bringt uns von Tecoripa nach Yecora. 
Lastwagenfahrer Joel bringt uns von Tecoripa nach Yecora. bild: thomas schlittler

Hat der vierfache Familienvater keine Angst, wenn er Woche für Woche in einer Gegend unterwegs ist, in der immer wieder Menschen ermordet werden? «Nein, mir passiert nichts. Ich weiss, welche Plätze ungefährlich sind und welche ich meiden muss.» Auch vom Autostöppeln rät er uns nicht ab – solange wir nur am Tag trampen und folgende Regel beachten: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Yecora, ein anderes kleines Kaff im Nirgendwo, das schon Schlagzeilen machte wegen Drogenleichen. Joel bringt uns direkt zu einem Hotel, das er kennt. Nachdem wir die Zimmernummer wissen und bezahlt haben, fragen wir die Hotelinhaberin nach dem Schlüssel. Ihre Antwort: «Oh, wir haben keine Zimmerschlüssel.» Im Sinne von: Das ist hier nicht nötig. Verwundert gehen wir in unser Zimmer – vorbei an drei kleinen Kindern, die vergnügt auf einem Trampolin herumspringen.

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Per Autostopp um die Welt – Woche 84
Nach einem Monat Spanisch büffeln in Hermosillo sind meine Freundin Lea und ich wieder On The Road! quelle: thomas schlittler
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In den folgenden Tagen geht das Wechselbad der Gefühle weiter: Uns wird etwas mulmig, als ein Militärfahrzeug mit fest installiertem Maschinengewehr unseren Weg kreuzt. Wenige Stunden später rennen wir mit den Kindern unserer Fahrerin Diana lachend im Huckepack um das kleine Dorfmuseum.

Wir laufen schüchtern an den auffällig vielen Männern vorbei, die scheinbar gelangweilt an einer Hauswand lehnen. Am Silvesterabend stossen wir im touristischen Creel mit einem jungen mexikanischen Pärchen aufs neue Jahr an.

Tags darauf kommt uns ein Pick-up-Truck mit bewaffneten, zivil gekleideten Männern auf der Ladefläche entgegen. Danach lädt uns ein älteres Ehepaar in ihre Berghütte zum Mittagessen ein.

Hast du eine Etappe verpasst?Hier findest du sie alle:

Elvira überrascht uns mit selbstgemachten Tortillas.
Elvira überrascht uns mit selbstgemachten Tortillas.

Die Erlebnisse auf dem Drogenpfad haben mich zum Nachdenken gebracht.
Drei Fragen lassen mich nicht mehr los:
1. Für wen würde ich arbeiten, wenn ich ohne Perspektive in einem dieser kleinen mexikanischen Dörfchen aufgewachsen wäre?
2. Hat ein Amerikaner, der sich eine Ladung Koks die Nase hochzieht, weniger Blut an den Händen als ein Mexikaner, der diese Drogen in die USA schmuggelt?
3. Was würde passieren, wenn man die Drogen legalisieren würde, anstatt einen Krieg zu führen, der nicht zu gewinnen ist, aber Jahr für Jahr tausende Menschenleben kostet?

Die Bilder der letzten Etappe von Phoenix nach Hermosillo

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Per Autostopp um die Welt – Woche 79: Von Phoenix (USA) nach Hermosillo (Mexiko)
Tony (siehe Artikel) bringt uns nach Tucson, wo wir die letzte Nacht in den USA verbringen. Tags darauf geht es Richtung mexikanische Grenze..
quelle: thomas schlittler
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27 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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atomschlaf
07.01.2017 16:13registriert Juli 2015
Danke für den interessanten Bericht!

Zu Frage 2: Das meiste Blut an den Händen haben all jene, die stur an der längst gescheiterten Prohibitionspolitik festhalten.
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supercalifragilisticexpialidocious
07.01.2017 17:27registriert Januar 2017
Lieber Thomas

Lese deinen Blog nun schon seit einiger Zeit und finds echt geil was du machst!

Bin diesen Frühling/Sommer selbst durch Mexico getrampt, allerdings 'nur' von San Luis Potosì runter bis nach Acapulco mit allgemein langer Aufenthaltsdauer im Staat Guerrero (Da gibts die meisten Drogentote). Bis auf ein kleiner Überfall gabs kein Zwischenfall und habe oft Fotos gemacht, auch von der lokalen Bevölkerung oder bei Einladungen von den Inneneinrichtungen der Häuser Wenn du Bedenken hast, einfach fragen, die meisten Mexikaner findens toll wenn du was fötelen willst :).
Geniesst es noch!
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Der Ort, an dem die Frauen baggern
Ich war für ein Wochenende in Davos und habe eine kleine Analyse und eine Nummer für euch mitgebracht.

Wer in Zürich jemanden kennenlernen will, so im echten Leben, in einer Bar oder einem Club, ich rede hier nicht von den ganz verrückten Dingen, die nur in Filmen passieren, wo sich Leute am helllichten Tag auf dem Trottoir kreuzen und so verzaubert sind, dass sie umdrehen und einander auf der Stelle ehelichen, nein, ich rede hier vom billigbanalen, promillebedingten Ansprechen an Orten, wo man sich kaum sieht und hört, davon rede ich, und auch das passiert in Zürich nie. Mir nicht, meinen Freundinnen und Freunden nicht und dir ganz bestimmt auch nicht. Ausser vielleicht, du siehst aus wie Jennifer Lawrence. Aber wer sieht schon aus wie Jennifer Lawrence? Eben.

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