Ich wurde in den letzten Tagen mehrere Male von Wildfremden zum Übernachten eingeladen, bekam dutzende Mahlzeiten und Tees spendiert, und unzählige Menschen schenkten mir einen warmen Händedruck oder ein freundliches Lächeln.
All diese Gesten vermittelten mir das gleiche, wundervolle Gefühl:
Unter diesen Umständen ist es umso unerträglicher mitzubekommen, dass in der Schweiz gegen Flüchtlinge gehetzt wird. Insbesondere wenn ich Kommentare lese, in denen «besorgte Bürger» wegen der Flüchtlingswelle vor der «Islamisierung Europas» warnen und Moslems pauschal verunglimpfen, steigt mir das Blut in den Kopf.
Diese Leute möchte ich am liebsten an den Schultern packen, kräftig durchschütteln und fragen: «Junge, hast du überhaupt die leiseste Ahnung, was du da faselst? Hast du auch nur einen einzigen Moslem persönlich kennengelernt?»
Die Ängste, die viele Menschen haben – und von gewissen Politikern geschürt werden – sind unbegründet. Moslems ticken in den meisten Belangen gleich wie wir, wie diese Begegnungen zeigen:
Ich denke an Mehmet, der mich im Südosten der Türkei mitnimmt, und mir sagt, dass es für ihn nicht in Frage komme, im Westen zu arbeiten, weil er Familie und Freunde nicht verlassen wolle.
Ich denke an Meli, der mir mit ernster Miene erklärt, wieso er den Transfer von Lukas Podolski zu seinem Lieblingsklub Galatasaray Istanbul eher kritisch sehe (der Poldi ist ihm zu alt).
Oder an Ramazan, der seine Söhne Ali und Mustafa in den Sommerferien auf die Baustelle mitnimmt, damit er mehr Zeit mit ihnen verbringen kann.
Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen Westeuropa und muslimisch geprägten Ländern. Die Religion spielt in der Türkei für viele noch eine entscheidende Rolle.
So macht Süleyman einen Zwischenhalt, damit er auf seine fünf Gebete pro Tag kommt. Das Ganze hat aber nichts geheimnisvolles oder bedrohliches an sich, er nimmt mich gar mit in die Moschee.
Es stört ihn auch nicht, als ich ihm sage, dass ich persönlich mit Religion wenig anfangen kann. Stattdessen zündet er sich eine Zigarette an – obwohl Rauchen in seinen Augen eine Sünde ist ...
Mühe mit den Auswirkungen der Religion habe ich deshalb einzig bei der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Sie ist sehr traditionell, aus meiner Sicht altmodisch. In Teehäusern und Cafés sind meist nur Männer anzutreffen. Daraus zu schliessen, dass alle türkischen Männer herrschsüchtige Patriarchen sind, die ihre Frauen zu Hause einsperren, wäre aber falsch.
In den vier Wänden von Lastwagenfahrer Mehmet merke ich zum Beispiel schnell, dass eher seine Frau Netice die Hosen anhat. Sie führt das Gespräch, fragt, witzelt, lacht und strahlt. Netice wirkt nicht im geringsten wie eine unterdrückte Frau, auch wenn sie ein Kopftuch trägt und Händeschütteln zur Begrüssung sowie Umarmen zum Abschied leider nicht drinliegen.
Gesellschaftliche Veränderungen brauchen Zeit. In der Schweiz sollten wir das am besten wissen, das Frauenstimmrecht wurde erst 1971 eingeführt. Ein Drittel der Schweizer Männer war auch dann noch dagegen, in der Ost- und Innerschweiz gar eine Mehrheit. Und in Appenzell Innerrhoden dürften die Frauen vielleicht heute noch nicht abstimmen, wenn das Bundesgericht den Kanton 1990 nicht dazu gezwungen hätte.
Bedeutet das nun, dass die Schweizer Männer in diesen Regionen bis vor kurzem alles schlechte Menschen waren, vor denen man sich fürchten musste?
Vielleicht fragen sich einige, wieso ich nicht über den Konflikt zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Untergrundorganisation PKK schreibe, der in den letzten Tagen wieder eskaliert ist. Dafür gibt es drei Gründe: