Wir sind zurück in Europa, doch Trampen im Süden Spaniens ist kein Zuckerschlecken: In Córdoba warten meine Freundin Lea und ich fast sechs Stunden in der unbarmherzigen andalusischen Sonne, während Hunderte Autos an uns vorbeifahren. Das Thermometer zeigt 41 Grad. Immerhin erhalten wir zwischendurch eine Motivationsspritze: Ein älterer Herr, der uns von einer Restaurant-Terrasse aus beobachtet hat, schenkt uns eine Flasche Wasser und einen Schatten spendenden Regenschirm.
Endgültig erlöst werden wir aber erst von Mohammed: Der 33-jährige Marokkaner hält mit seinem Lastwagen an, als sei es die normalste Sache der Welt. Wir sind nicht die ersten Tramper, die er mitnimmt: «Einmal habe ich ein tschechisches Paar von Deutschland bis an die spanische Grenze gebracht.»
Mohammed kurvt seit 11 Jahren durch Europa und kennt den alten Kontinent wie seine Westentasche. Er liefert Pepperoni nach Portsmouth, Tomaten nach Hamburg und war auch schon in Lindau am Bodensee. Heute transportiert er Orangen nach Valencia.
In seiner Fahrerkabine hängt ein indianischer Traumfänger. Mohammed ist aber gläubiger Moslem. Er trägt einen gepflegten Bart, pechschwarzes Haar und hat einen dunklen, nordafrikanischen Teint. Einige Leute dürften in Mohammed optisch einen potenziell kriminellen Wirtschaftsflüchtling erkennen – oder gar einen potenziellen «IS»-Terroristen. Ich frage ihn deshalb: «Spürst du Rassismus, wenn du in Europa unterwegs bist?»
Der Strahlemann hebt zuerst nur seine Dächlikappe und meint grinsend: «Manchmal spüre ich, wie mich einige Leute anstarren. Aber das ist wahrscheinlich wegen meiner schönen schwarzen Haare.» Doch dann wird er ernst und sagt, dass es Situationen gebe, in denen er sich wegen seiner Herkunft ungerecht behandelt fühle. «Vor ein paar Tagen, als ich nahe der französisch-spanischen Grenze mit einem Kumpel in einem Café sass, forderte mich ein anderer Gast dazu auf, ich solle meine Schuhe anziehen.»
Mohammed hatte seine Flipflops ausgezogen und sass barfuss mit verschränkten Beinen auf seinem Sessel. Er sah nicht ein, was daran falsch sein sollte. Zumal sich die Inhaber des Cafés nicht daran störten. «Ich sagte dem älteren Herrn deshalb, dass er sich um seine eigenen Dinge kümmern solle.» Daraufhin entstand ein Wortgefecht.
Solchen Erlebnissen will Mohammed aber nicht allzu grosse Bedeutung zumessen. Er ist sehr gerne in Europa und schwärmt von der tollen Infrastruktur, der Zuverlässigkeit der Geschäftspartner sowie der Hilfsbereitschaft der Menschen: «Wenn ich die Leute nach dem Weg frage, weil ich eine Lieferadresse nicht finde, hilft mir immer jemand. Manchmal fahren die Einheimischen sogar im Auto voraus, damit ich ihnen folgen kann.»
Zu Beginn seiner Lastwagenfahrer-Karriere war Mohammed bei einer grösseren Firma angestellt. Vor einigen Jahren kaufte der Marokkaner aber gemeinsam mit seinem Vater einen LKW, um auf eigene Rechnung zu fahren. Mohammed: «Diese Investition war ein Risiko für uns, aber es hat sich gelohnt.» Mittlerweile besteht die Flotte aus drei Lastwagen. In Zukunft sollen es noch mehr werden: «Sieben oder acht Fahrzeuge wären schön. Mehr aber nicht, sonst wird es zu kompliziert.»
Seinen Geschäftssinn hat Mohammed bereits beim Kauf des ersten Lastwagens bewiesen. Diesen erwarb er nicht in Marokko, sondern in Deutschland. «Dort sind gebrauchte Lastwagen deutlich günstiger zu finden als in Nordafrika. Allerdings muss man die richtigen Leute kennen, kommunizieren können und mit der ganzen Papierarbeit klarkommen.»
Mohammed hat das Prozedere mittlerweile im Griff – und erhält deshalb Anfragen von anderen Marokkanern, die ebenfalls einen günstigen LKW aus Deutschland importieren möchten. «Freunden helfe ich kostenlos. Bei allen anderen verlange ich für meine Hilfe 1000 bis 2000 Euro.»
Mohammed kommt in Europa also mehr als gut zurecht. Hier leben will er trotzdem nicht: «Ich habe in Marokko ein gutes Leben.» Diese Erklärung ist so kurz wie einleuchtend – und sie erklärt, wie Migration funktioniert. Es braucht viel, bis jemand alles aufgibt und sein Land, seine Heimat, seine Familie und Freunde verlässt.
Mohammed hat das Glück, dass er sich diese Frage nicht stellen muss. Die meisten Westeuropäer auch nicht. Andere schon.