Ich kann mit Homal kaum ein Wort wechseln, dennoch weiss ich, dass er ein toller Typ ist. In den wenigen Stunden, die ich mit dem 23-jährigen Kirgisen verbringe, macht er gleich drei gute Taten: Erst lädt er die junge Studentin Buru auf, damit sie im 500 Kilometer entfernten Osh an die Uni kann. Dann nimmt er mich an den gleichen Zielort mit, ohne etwas dafür zu wollen. Und schliesslich hängt er an seinen Lastwagen auch noch einen kleinen Ford, dessen Motor mitten im kirgisischen Gebirge den Geist aufgegeben hat.
In diesem Ford sitzen Milbek und sein Geschäftspartner. Die beiden sind mir im ersten Moment nicht sympathisch. Mit skeptischem Blick schütteln sie meine Hand, als ich mich bei einem Zwischenstopp zusammen mit Homal und Buru zu ihnen an den Tisch setze. Milbek spricht sehr gut Englisch, ich kann ihm deshalb erklären, was ich hier in Kirgisistan mache.
Doch mein Geschwafel von wegen per Autostopp um die Welt scheint den 26-Jährigen nicht sonderlich zu interessieren, geschweige denn zu beeindrucken. Ich bin deshalb überrascht, als er mich beim Verlassen des Restaurants einlädt, den Rest der Strecke bei ihm im Auto zu verbringen. Ich setze mich auf den Rücksitz, Milbek ans Steuer. Doch die Unterhaltung verläuft auch im Ford, der immer noch an Homals LKW hängt, harzig.
Ich gebe meine Gesprächsbemühungen deshalb auf und schliesse die Augen. Da sagt Milbek plötzlich: «Hey Thomas, rede mit mir, sonst schlafe ich ein!» Das will ich natürlich nicht. Das Abschleppseil ist gefährlich kurz, und ich sehe uns bereits mit voller Wucht in Homals LKW prallen, falls dieser eine Vollbremsung machen sollte.
Ich frage Milbek deshalb etwas, was ich sonst nur von Leuten wissen will, mit denen ich zuvor eine gute Unterhaltung hatte: «Was ist dein Traum, dein grösster Wunsch?» Seine überraschende Antwort: «Meine Mutter jeden Tag glücklich zu sehen.»
Dieser Satz ist der Türöffner zu Milbeks Geschichte. Milbeks Vater hat sehr viel getrunken und seine Mutter im Suff schlecht behandelt. Dass er sie geschlagen hat, erwähnt Milbek nicht ausdrücklich, aber ich höre es zwischen den Zeilen heraus. Auf jeden Fall liess sich seine Mutter scheiden. Milbek: «Das ist in Kirgisistan rechtlich kein Problem, bringt für Frau und Kinder aber grosse finanzielle Probleme mit sich.»
Kirgisistan ist ein muslimisch geprägtes Land, die Rollenverteilung ist in den allermeisten Familien traditionell: Der Mann arbeitet, die Frau besorgt den Haushalt und schaut zu den Kindern. Ist der Mann weg, kommt folglich kein Geld mehr rein. Hilfe vom Staat ist nicht zu erwarten. Zwar hat sich Kirgisistan in den letzten Jahren besser entwickelt als die anderen Länder Zentralasiens, ein Wohlfahrtsstaat nach westeuropäischen Massstäben ist das Land aber noch lange nicht.
Milbek ist seit der Scheidung deshalb eine Art Ersatzvater. Als Ältester liegt es an ihm, mit dem Im- und Export von Früchten genug Geld zu verdienen, um seine Mutter und seine vier Geschwister durchzubringen. Seinem Haus nach zu urteilen, in das er mich nach unserer Ankunft in Osh einlädt, meistert er die Aufgabe mit Bravour.
Im grossen Garten haben sogar ein paar Hühner, Ziegen und ein Pferd Platz. Und in der Garage treffe ich auf drei Frauen und zwei Burschen, die für Milbeks Geschäft Beeren säubern. Im Mai hat Milbeks Haushalt Zuwachs erhalten: Er hat geheiratet. Im nächsten Frühling erwarten er und seine Frau das erste Kind.
Des Weiteren lebt auch seine Grossmutter bei ihm. Für Milbek eine Selbstverständlichkeit – auch wenn er weiss, dass das längst nicht überall so ist: «Wieso überlassen die Europäer ihre Eltern und Grosseltern im Alter sich selbst? Ich könnte das nicht.» Mein Argument mit der staatlichen Altersvorsorge überzeugt ihn nicht. Er kontert: «Und was ist mit der Einsamkeit? Löst das auch der Staat?»
Ich schweige – und habe längst verstanden, wieso sich Milbek nur mässig für mein Autostopp-Projekt interessiert: Er hat Wichtigeres zu tun.
Ich bin beeindruckt!