Kritiker der neuen Ordnung in Ägypten haben es schwer: Ihnen drohen Polizeigewalt, fragwürdige Anklagen und harte Urteile bis zur Todesstrafe. Nimmt ein ungefestigtes Regime auf diese Weise die Zügel fester in die Hand?
Mehr als 500 Todesurteile gegen Islamisten in der Provinz Minia: Damit hatte in Ägypten kaum jemand gerechnet. «Man verurteilt nicht 529 Angeklagte in nur drei Tagen zum Tod», sagte der Rechtsanwalt Gamal Eid, der in Kairo das Arabische Netzwerk für Menschenrechtsinformationen (ANHRI) leitet.
An den zwei Verhandlungstagen am Samstag und Montag kamen die Verteidiger der Angeklagten in der Sache nicht zu Wort. Wegen gewalttätiger Ausschreitungen im vergangenen Sommer verhängte der Richter gegen die Islamisten die Höchststrafe.
Das Rekordurteil des Strafgerichts von Minia mag in seiner gnadenlosen Härte herausragen – und doch fügt es sich in die Linie ein, die die ägyptischen Machtorgane verfolgen, seit das Militär den gewählten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi im vergangenen Juli gestürzt hat.
Die meist friedlichen Proteste der Muslimbruderschaft wurden unter grossem Blutvergiessen niedergewalzt. Mindestens 1400 Todesopfer waren landesweit zu beklagen. Rund 16'000 Menschen wurden verhaftet, unter ihnen Mursi und praktisch die gesamte Führung der Bruderschaft.
Gegen Mursi und andere Spitzenkader seiner Organisation laufen derzeit Strafverfahren wegen Spionage, Hochverrat und mysteriöser Gefängnisausbrüche. Die veröffentlichten Anklagen lesen sich zwar wie schlechte Agentenromane, doch droht den Angeklagten im Falle einer Verurteilung gleichfalls die Todesstrafe.
Doch auch die Revolutionäre des «Arabischen Frühlings», der 2011 den Sturz des Langzeitherrschers Husni Mubarak bewirkt hatte, bekommen die Strenge der neuen Politik zu spüren. Für Verstösse gegen die Spielregeln – etwa das neue, restriktive Versammlungsgesetz – setzt es empfindliche Haftstrafen.
So mussten Ahmed Maher, Ahmed Duma und Mohammed Fadl, drei massgebliche Aktivisten des Mubarak-Sturzes, für drei Jahre ins Gefängnis. Sie warten derzeit auf eine Entscheidung in ihrem Berufungsverfahren. Der Politikwissenschaftler und Sozialdemokrat Amr Hamzawy sieht wiederum auf freiem Fuss seinem Prozess wegen «Verächtlichmachung der Justiz» entgegen. Sein «Verbrechen»: Er hatte auf Twitter die Politisierung bestimmter Gerichtsurteile kritisiert.
Gefängnisurteile in grosser Zahl ergehen immer wieder auch gegen demonstrierende Studenten – allein in der Vorwoche hagelte es Strafen zwischen vier und 14 Jahren. «Jeder kann verhaftet oder sogar von der Polizei getötet werden», meint der 21-jährige Islam-Student Jussif Salhin von der Al-Azhar-Universität, der Sprecher der Bewegung Studenten gegen den Coup, die der Bruderschaft nahesteht. «Viele meiner engen Freunde sitzen im Gefängnis. Ich kann der nächste sein. Ich bin nicht besser als sie.»
Für die Präsidentenwahl steht zwar noch kein Termin fest, und Militärchef Abdul Fattah al-Sisi muss seine Kandidatur erst noch offiziell erklären. Die nahezu heilshaften Erwartungen, die ihm aus grossen Teilen der Bevölkerung entgegenschlagen, wird er nicht erfüllen können. Umso mehr müsse er seine Macht nötigenfalls mit eiserner Faust konsolidieren, um nicht von der nächsten Revolte hinweggeschwemmt zu werden, glauben seine Anhänger.
Der Politologe Joshua Stacher von der britischen Universität Kent sieht ähnliche Motive hinter dem Vorgehen der Machtorgane. Politische Verfolgungen und Unterdrückung führt er auf die mangelnde Stabilität der derzeitigen Macht zurück: «Die Gewalt gegen Dissidenten aller Couleurs, die wir derzeit beobachten, ist eine bewusste Politik der Staatsorgane, um bei der Konstruktion des neuen Regimes zu helfen.» (tvr/sda/dpa)