Ich gestehe gerne: Joe Biden war zunächst keineswegs mein Favorit. Ich hätte lieber Amy Klobuchar als Herausforderin von Donald Trump gesehen; nicht nur, weil es mehr als überfällig ist, dass endlich eine Frau Präsidentin der USA wird. Ich gehörte auch zu denen, die glaubten, Biden sei schlicht zu alt für den Job.
Asche sei über mein Haupt gestreut. Heute muss ich eingestehen, dass ich mich geirrt habe. Mehr noch, ich bin inzwischen überzeugt, dass Joe Biden der Einzige war, der Trump besiegen konnte. Um zu verstehen, was ich meine, müssen wir kurz ein halbes Jahrhundert zurückblenden:
Zu Beginn der Sechzigerjahre wurde John F. Kennedy zum Präsidenten der USA erkoren. Er war jung, sah blendend aus und war gewissermassen die Verkörperung einer Generation, die aufbrach, die Welt zu erobern. Wenn JFK seinen Landsleuten erklärte, sie müssten sich nicht fragen, was das Land für sie tun könne, sondern sich stattdessen fragen, was sie für das Land tun könnten, dann war das nicht pathetisch. Die Menschen glaubten ihm und handelten danach.
Nicht nur der Präsident war jung, auch die Menschen. Die Babyboomer-Generation wurde flügge und begann, das Land umzukrempeln. Sexuelle Befreiung und Rockmusik leiteten eine kulturelle Revolution ein. Dank einem lang anhaltenden Wirtschaftsboom konnte auch der Sozialstaat grosszügig ausgebaut werden. Grosse Würfe, ja revolutionäre Veränderungen waren damals möglich.
Ein halbes Jahrhundert und eine neoliberale Gegenreformation später haben sich die Verhältnisse vollkommen geändert. Aus den Hippies von einst sind vergrämte Pensionisten geworden, die argwöhnisch ihre wenigen Privilegien verteidigen. Besitzstandswahrung hat Aufbruch ersetzt, Egoismus die hehren Ziele von einst verdrängt.
Die Millennials sind derweil nicht nur viel weniger zahlreich als einst die Babyboomer, sie müssen sich auch in einem viel härteren Wirtschaftsklima behaupten. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist älter und kälter geworden.
Barack Obama war ebenso charismatisch wie einst JFK, und ebenso jung und gut aussehend. Auch er hat versucht, Aufbruchstimmung zu verbreiten. Erinnert ihr euch noch an «Yes, we can»? Obama wollte die sich bereits abzeichnende Spaltung in ein «blaues» und ein «rotes» Amerika überwinden. Dabei ist er grossartig gescheitert. Ausser einer vermurksten Gesundheitsreform ist ihm kein grosser Wurf gelungen.
Grosse Würfe sind derzeit in den USA zum Scheitern verurteilt. Nichts zeigt dies deutlicher als das Wahlresultat in Kalifornien. Im progressivsten Bundesstaat des Landes wurde Joe Biden zwar wie erwartet mit einer grossen Mehrheit gewählt. Gleichzeitig haben die Wählerinnen und Wähler jedoch verschiedene linke Anliegen wie Mietkontrolle und besseren Schutz für Arbeitnehmer ebenso klar verworfen. (Kalifornien hat wie die Schweiz eine Art direkte Demokratie.)
Der Golden State hat damit gezeigt, dass die Hoffnung auf eine grosse blaue Welle, auf einen Erdrutschsieg der Demokraten, mit Präsident und einer Mehrheit im Kongress eine Illusion war. Das Land hätte dies zwar dringend nötig. Nur so könnten längst fällige Reformen auch umgesetzt werden. Tatsache ist jedoch, dass es dafür keine politische Mehrheit gibt.
Der politische Zustand der USA lässt sich wie folgt zusammenfassen: Es gibt zwei grosse Blöcke, Republikaner und Demokraten, die sich diametral gegenüberstehen. Die Republikaner sind dabei relativ leicht zufriedenzustellen: Steuern senken, Waffen erlauben und es mit den Evangelikalen nicht verscherzen, das wär's dann auch schon. Ein bisschen unterschwelliger Rassismus kann ebenfalls nicht schaden.
Die Demokraten hinter sich zu scharen, ist jedoch schlimmer als Katzen zu dressieren. Zwischen dem progressiven Flügel und den Moderaten liegen Welten. Dass die Partei dennoch geschlossen wie noch selten in die Wahlen zog, ist nicht nur dem Gegner Trump zu verdanken. Biden hat Grösse gezeigt und auf persönliche Rachezüge verzichtet. So hat er seine ärgste Gegnerin aus den Vorwahlen, Kamala Harris, zu seiner Partnerin auf dem Wahlticket erkoren.
Biden hat nicht nur Charakter gezeigt, er hatte auch einen klaren Plan: Er wollte die «blaue Mauer» im Rust Belt, die bei Hillary Clinton eingestürzt war, wiederherstellen und gleichzeitig einzelne republikanische Swing States wie Georgia oder Arizona angreifen.
Weil er sich eisern daran hielt, ist dieser Plan aufgegangen. Biden liess sich weder von Trump provozieren noch von nervösen Stimmen im eigenen Lager irre machen. So ist er trotz den Superspreader-Rallys des Präsidenten nie in Versuchung geraten, es ihm gleichtun zu wollen.
Dank diesem Plan ist es Biden gelungen, in den wichtigen Swing States die wenigen unabhängigen Stimmen, die für seinen Sieg nötig waren, zu ergattern. Bernie Sanders oder Elizabeth Warren hätten dies nicht geschafft. Sie hätten die Senioren und die Vorstadt-Frauen mit ihren radikalen Vorschlägen verschreckt und so Trump zum Sieg verholfen.
Biden hat seinen Plan gegen einen Gegner umgesetzt, der die gesamte Macht eines Präsidenten ausspielen konnte. Er hat damit nicht nur Amerika, sondern allen demokratischen Rechtsstaaten einen grossen Dienst erwiesen.
Die besiegten Republikaner lassen ihre Masken fallen: Trump versucht, mit einer geradezu faschistischen Rede seine Anhänger aufzuhetzen. Sein ehemaliger Chefstratege Steve Bannon will Verräter wie FBI-Direktor Christopher Wray oder Anthony Fauci hinrichten lassen und ihre Köpfe wie einst im Mittelalter öffentlich aufspiessen.
Biden hat dies verhindert. Dafür gebührt ihm zunächst einmal grossen Respekt. Ich für meinen Teil ziehe geistig den Hut vor ihm.
Biden wird die vielen Probleme in der USA vermutlich nicht in diesen 4 Jahren lösen können, aber er bringt endlich wieder Empathie, Würde und Ruhe in das weisse Haus. Seine sachliche und väterliche Art ist im Moment genau das, was dieses Land jetzt braucht.