Nehmen wir einmal an, politisch unkorrekt und boshaft wie wir nun mal sind, Athletinnen oder Athleten aus Kasachstan, Italien oder Weissrussland wären vor den Spielen in Tokio erwischt worden. Weil eine oder einer «Doping-Bonbons» gelutscht und ein anderer zu viel Rindfleisch von falschen Kühen gegessen und darüber hinaus auch noch in Amerika drüben unter fabelhaften Umständen einen fabelhaften Rekord aufgestellt hat. Eine Bestmarke, die – ha, ha, ha – natürlich nicht anerkannt werden konnte.
Ganz ehrlich: wir hätten heimlich gelacht und in unserer Überheblichkeit gedacht: halt typisch für die Verhältnisse in solchen Ländern. Kennt man doch. Nicht bei uns. Wir sind besser. Und im helvetischen Blätterwald hätten wir sicherlich irgendwo eine Glosse zum Thema gefunden.
Kariem Hussein und Alex Wilson sind in der Kontrolle hängen geblieben. Der erste, weil er wegen Unterzuckerung nach einem Rennen und vor der Dopingkontrolle die falschen Tabletten lutschte. Der zweite, weil er in Las Vegas illegale Stoffe angeblich im Rindfleisch erwischt hat. Nicht nur diese Beispiele lehren uns: Es gibt keinen Grund für solche unangebrachte Überheblichkeit. Aber Grund zur Bescheidenheit.
So oder so: Nichts befeuert im Sport Fantasie und Verschwörungstheorien so sehr wie Doping. Der tollste Fall ist wohl jener von Dieter Baumann. Nicht einmal Tom Wolfe, T.C. Boyle oder Dan Brown hätten ihn erfinden können.
Bei zwei Trainingskontrollen am 19. Oktober und 12. November 1999 wird im Urin des Olympiasiegers von 1992 (5000 Meter) das anabole Steroid Nandrolon nachgewiesen. Dieter Baumann beteuert seine Unschuld. Die Sportwelt reagiert ungläubig: Baumann gedopt? Ausgerechnet der so engagierte Anti-Doping-Kämpfer? Der Fall gerät zum Krimi. Polizei und Staatsanwaltschaft kommen ins Spiel. Die 2000-seitigen Akten der Kriminalpolizei werden schliesslich geschlossen – kein hinreichender Tatverdacht gegen Baumann. Aber auch kein konkreter Tatverdächtiger. Man gehe davon aus, «dass Baumann Opfer eines außerordentlich raffinierten Anschlags ist», sagt der zuständige Hauptkommissar.
Später wird die verbotene Substanz in einer Zahnpasta Dieter Baumanns gefunden. Sie war injiziert worden – von wem auch immer. Dann taucht eine zweite fachgerecht manipulierte Tube auf. Der vermeintliche «Dopingsünder» spricht von einem «kriminellen Akt» und setzt 100.000 Mark Belohnung für die Ergreifung des Täters aus. Vergebens kämpft er unmittelbar vor den Sommerspielen 2000 in Sydney beim Internationalen Sportgerichtshof um sein Startrecht. Nach Ablauf der später verkürzten Sperre holt er 2002 noch EM-Silber. 2003 beendete er seine Karriere.
Sein Fall ist bis heute ein ungelöstes Rätsel. Oder denken wir nur an die wundersame Geschichte von Johann Mühlegg, dem deutschen Langläufer, der 2002 in Salt Lake City unter spanischer Flagge nur so über die olympischen Loipen stob. Sein Erfolgsgeheimnis: Er vertraute auf himmlische Kräfte und bereitete seine Getränke nur mit geweihtem Wasser zu. Weil er sich durch einen Fluch bedroht fühlte. Er glaubte einen direkten Draht zum Jenseits zu haben. Als Medium fungierte Justina Agostinho, eine arbeitslose Raumpflegerin. Auf seinen Wettkampfreisen führte er stets Kanister Leitungswasser mit sich, das Justina Agostinho geweiht hatte. Auf das heilige Wasser konnte er nicht verzichten. Er brauchte es, um sich Suppe und Tee zu kochen oder um Erfrischungsgetränke zu mixen.
Und wie endete diese wundersame Geschichte? Johann Mühlegg blieb in der olympischen Dopingkontrolle hängen und musste die drei Goldmedaillen von Salt Lake City zurückgeben. Offenbar hatte er auch ein wenig mit ungeweihten Wassern nachgeholfen.
Im Vergleich zum geweihten Wasser von Johann Mühlegg und zur Zahnpasta von Dieter Baumann sind unsere olympischen Doping-Geschichten, sind die Lutschtabletten von Kariem Hussein und das Rindfleisch von Alex Wilson geradezu langweilig.
Es gibt auch Fälle, die ganz banal enden: Velo-Weltmeister Oscar «Ösi» Camenzind wird am 22. Juli 2004 kurz vor den Olympischen Spielen in Athen gesperrt. Doping. Es hat ihn bei einer Trainingskontrolle erwischt. Er gibt zu, «geladen» zu haben, erzählt keine fantastische Geschichte und erklärt kurz darauf seinen Rücktritt. Boshaft wie wir sind, können wir auch sagen: Der Gentleman oder die ehrbare Dame dopt, zahlt, schweigt und verlässt die Bühne.
Am Ende all dieser olympischen Doping-Geschichten, die längst Bücher füllen – der Schweizer Doping-Fahnder Matthias Kamber hat tatsächlich eines geschrieben («Der vergiftete Sport») – bleiben drei Fragen unbeantwortet:
Erstens: Was ist, wenn eine noch so abenteuerliche Ausrede einer erwischten Sünderin oder eines Sünders doch wahr ist? Könnte es auch sein, dass Karrieren ruiniert oder geknickt werden, weil die Doping-Fahnderinnen und -Fahnder irren? Schliesslich gibt es auch im richtigen Leben Justiz-Irrtümer. Auch die Sportgerichtsbarkeit ist nicht unfehlbar.
Zweitens: Wie viele Sünderinnen und Sünder werden nie erwischt? Gibt es tatsächlich flächendeckenden und sonstigen Betrug, der nie ganz aufgedeckt wird? Schliesslich werden auch im richtigen Leben nicht alle erwischt.
Drittens: Sind Sportlerinnen und Sportler im durchorganisierten Schweizer Sport im Nachteil, weil sie wahrscheinlich die bestkontrollierten der Welt sind und sich nicht in den Weiten Russlands oder Chinas den Fahnderinnen und Fahndern entziehen können? Oscar Camenzind, Kariem Hussein und Alex Wilson sind bei Kontrollen in der Schweiz erwischt worden.
Wenn irgendwo gilt, vor der eigenen Türe zu wischen und nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen – dann wohl in Doping-Angelegenheiten.
https://www.sportschau.de/doping/ARD-Doku-Geheimsache-Doping-Schuldig-Reaktionen-100.html