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Interview

Sibylle Berg: «Oft verzögern Geheimdienste die Terrorbekämpfung»

Die in Zürich lebende Autorin Sibylle Berg wird für ihr Gesamtwerk mit dem Grand Prix Literatur 2020 ausgezeichnet.
Schriftstellerin und Kritikerin digitaler Überwachung: Sibylle Berg.Bild: KEYSTONE
Interview

«Oft verzögern Geheimdienste die Terrorbekämpfung»

Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat für ihren Roman «GRM Brainfuck» mit über 50 Wissenschafterinnen und Wissenschaftern gesprochen. Sie ist überzeugt, die Spionagesoftware Pegasus sei nur die Spitze des Eisbergs.
25.07.2021, 23:06
Hansruedi Kugler und Raffael Schuppisser / CH Media
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Kürzlich wurde bekannt, dass mit der israelischen Software Pegasus die Handys von Menschenrechtlern, Journalisten und Oppositionellen ausspioniert werden. Hat Sie das überrascht?
Sibylle Berg:
Ich dachte, das sei bekannt. Die Firma NSO existiert seit elf Jahren. Vor über einem Jahr gab es den Versuch, dem Unternehmen die staatliche Lizenz per Gericht zu entziehen. Der Versuch scheiterte. Die Firma ist eine von vielleicht einem Dutzend, die mit unethischer Überwachung Geld verdienen. Wenn etwas überraschend war, dann, dass viele zum ersten Mal kurz realisierten, dass es so etwas wie Bespitzelung gibt, vor der niemand sich schützen kann. Vielleicht ist gerade Sommerloch.

Es ist ja auch normal, dass Geheimdienste Menschen ausspionieren, die ihnen verdächtig erscheinen.
Haben wir nicht Polizei und Militär, um die Bevölkerung zu schützen? Dass fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit bevölkerungsfinanzierte Dienste oft gegen die Interessen der Bevölkerung arbeiten, kann doch nicht normal sein. Die Arbeit von Geheimdiensten bestand in der Vergangenheit oft aus Militär und Wirtschaftsspionage, der Zerschlagung von Systemen, wie die unermüdliche Schwächung von kommunistischen Staaten durch die von Allan Dulles gegründete CIA zeigt.​

Sie haben einiges zur Geschichte der Geheimdienste recherchiert.
Die ist voller bizarrer Aktionen wie die faschistische Organisation Gladio in Italien, die für eines der grössten Terrorattentate in Italien verantwortlich war, dann die NSU Morde in Deutschland, der «Five Eyes»-Geheim-Bund, ein Zusammenschluss von Diensten der USA, Grossbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands, die gemeinsam mit dem Ziel antreten, andere Saaten auszuspionieren, die Crypto-Leaks-Affäre unseres Landes, der Einsatz der Dienste in der McCarthy-Ära gegen Teile der Bevölkerung.

Sehen Sie in Geheimdiensten also mehr eine Gefahr für die eigene Bevölkerung als einen Schutz?
Oft verzögern Geheimdienste die Terrorbekämpfung und behindern dabei Polizeiarbeit. Der Anis-Amri-Fall demonstriert das bewusste oder unbewusste Versagen der deutschen Inlandsgeheimdienste (ein Attentäter, der den Behörden bekannt war, verübte den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt Anm. d. Red.). Das alles lässt Zweifel an der Schutzfunktion der Dienste der Bevölkerung gegenüber aufkommen. Ich hoffe keine Mitarbeitenden des NDB, des Nachrichtendienstes des Bunds, lesen ihre Zeitung. Und wenn doch – war nur Spass.

Dennoch: Dank Überwachung können auch Terroristen observiert und Anschläge vereitelt werden. Es wäre doch fatal, wenn die Geheimdienste solche digitalen Tools nicht nutzen würden.
Ich kann darauf nichts mehr sagen, ausser: Schauen Sie sich die Statistik der grauenhaften Terrorattentate in der Schweiz an.

Man könnte einwenden: Sie sieht so gut aus, weil unsere Geheimdienste funktionieren. Die NSO Group behauptet, dass dank ihrer Software über 100 Anschläge verhindert werden konnten.
Würde ich an ihrer Stelle auch behaupten. Das ist nicht bewiesen, und erklärt zum einen nicht, warum massenhaft Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten überwacht wurden. Mir fällt gerade noch der lustige Umstand ein, das mit Hilfe von Datenklau gefütterte Predictive Policing liegt in zwei von drei Verdachtsfällen falsch. Nochmals: Es ist fundamental falsch, die Bevölkerungen unter Generalverdacht zu stellen. Es ist falsch, die Menschen auszuwerten, ihre Privatheit abzuschaffen, sie zu kontrollieren, mit Punkten zu bewerten, sie mit Gesundheitsnachweisen auszustatten, die sie mit sich führen müssen, und die man nach Corona um jede ansteckende Krankheit erweitern kann. Es gibt keine Hundert-Prozent-Sicherheit. Das wissen auch Geheimdienste und Regierungen. Im Gegenteil: Ein kontrolliertes Volk, dem man misstraut, ist ein unzufriedenes Volk.

Eine Massenüberwachung wie die Snowden-Papiere sie zu Tage gefördert haben, offenbart Pegasus auf jeden Fall nicht.
Es wurden mit Pegasus massenhaft Journalistinnen und Journalisten ausgespäht und observiert. Wenn man wie ich rudimentär versteht, wie die sogenannte Spionagesoftware, auch bekannt unter Trojaner – nicht zu verwechseln mit Staatstrojanern, die dasselbe sind aber in gut – funktionieren, weiss man, dass sie meist automatisiert in Sicherheitslücken eindringen, die vorher auf Weisung der staatlichen Geheimdienste nicht geschlossen wurden, um Staatstrojaner anwenden zu können. Dadurch ist immer die Möglichkeit zur Massenüberwachung gegeben, die automatisiert durch KI funktioniert.

Sie haben viele Kontakte in Israel, lebten länger dort. Überrascht es Sie, dass Pegasus gerade in Israel entwickelt worden ist?
Nun muss man Obacht geben, nicht in antisemitische Stereotypen zu rutschen. Ich möchte nicht unterstellen, dass die Verbreitung des Leaks in den seriösen Massenmedien damit zusammenhängt. Dass jetzt NSO und Pegasus kurzfristig Schlagzeilen gemacht haben, was morgen wieder vergessen sein wird, ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich auf dem Markt der Drecks-Spionagesoftware, ein einträgliches und wachsendes Geschäftsfeld, mehrere Anbieter einen Wettbewerb liefern, die froh über die Ablenkung von ihrem eigenen Dreck sind.

Sie haben intensiv recherchiert.
Wir haben zum Beispiel FinFisher die zur Gamma-Group gehören, die von der deutschen Bundesregierung unterstützt werden, oder die deutsche ZITiS. Die CIA hat selber zahlreiche Trojaner gebaut, wie WikiLeaks gezeigt hat. Dann die Peter Thiels Palantir Group, die mit einer Anschubfinanzierung der CIA massgeschneiderte Spionagesoftware herstellt, die heute von europäischen Polizeidiensten und weltweit fast allen Banken genutzt werden. Die Palantir Group, die sich jetzt der schönen Landschaft wegen in der Schweiz eine Filiale gönnt. Angehörige des Unternehmens sitzen in den Vorständen grosser Schweizer Medienunternehmen. Also hervorragend, dass jetzt einer der grossen Spionagetoolhersteller in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit geraten ist. Es gibt leider noch viele andere wie Pegasus.

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In Ihrem preisgekrönten Roman «GRM» erzählen Sie von einer nahen Dystopie, in der es staatliche Unterstützung für die Bürger nur gegen das Einpflanzen eines Überwachungschips gibt. Verstehen Sie Literatur als Warnerin?
Warnen wirklich nicht, wer bin ich denn. Ich sehe das Buch als Untersuchung des Jetzt-Zustandes mit der Antwort, welches Ziel eine Massenüberwachung haben kann, mit kompletter Kontrolle, Sozial- und Ökopunkten für gutes Benehmen. Der Chip im Buch war nur ein lustiges Gadget. Wir brauchen keine Chips, wir haben ein Handy, ohne das man bald nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, einen biometrischen Pass und die dazugehörigen Kameras. Bald einen digitalen Gesundheitsnachweis, den jeder vorzeigen und bei sich führen muss. Wozu sollte ein Chip gut sein?

Für «GRM» haben sie mit vielen Wissenschaftern gesprochen und daraus das Nachfolgebuch «Nerds retten die Welt» geschrieben. Wie tun die Wissenschaftsnerds das?
Viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter halten sich in dem Gebiet auf, in dem sie Fakten liefern können. Die eventuell von anderen Fakten widerlegt werden. Den Begriff «Meinungen» gibt es in wissenschaftlicher Arbeit und Forschung selten, und wenn, ist er lächerlich. Wissenschafter verwenden in Arbeitszusammenhängen auch selten die Worte «Gefühle» oder «Wahrheit». Keine Wissenschafterin würde über ihre Arbeit im Zusammenhang mit dem «gesunden Menschenverstand» reden, was schon einmal hilfreich ist.

Finden die Nerds genug Gehör?
Ich las ein Interview mit dem grossartigen Bundeskanzler Thurnherr, der sich dafür starkmachen möchte, dass bei politischen Entscheidungen vermehrt Wissenschafterinnen hinzugezogen werden. Was ein grossartiger Ansatz ist. Wobei «hinzuziehen» ein wichtiger Zusatz ist. Denn Wissenschafterinnen und Wissenschafter neigen natürlich wie alle Spezialisten zu einem Tunnelblick. Wenn ich Mitglied der Schweizer Regierung wäre, würde ich mich in dieser überkomplexen Zeit sehr über fachkundigen Rat freuen.

Gibt es aus Ihren Recherchen ein Rezept, wie man sich vor dem digitalen Monster schützt?
Verlangsamung, Misstrauen der übereilten Digitalisierung gegenüber. Sich von mobilen Endgeräten unabhängig machen. Das Gesicht vor biometrischen Kameras verhüllen. Hoppla, das geht nach dem Burkagesetz ja nicht mehr. Auf alte Kommunikationsformen wie Briefe und Gespräche und Treffen zurückgreifen. Nie, nie sensible Daten ins Netz stellen, weder als Privatperson noch als Behörde. Nie auf ausländische Server als Datenlager zurückgreifen, nie Palantir Software benutzen.

Sie sind sehr aktiv auf den sozialen Medien. Geben Sie Ihre eigenen Daten nicht zu unbedacht an Facebook und Twitter weiter?
Nun reden wir von dem Unterschied: wissentlich in Eigenverantwortung etwas zu tun oder ohne mein Wissen ausspioniert zu werden. Es obliegt mir, was ich im Netz teile. Es steht nicht in meiner Macht, mich vor Bespitzelung zu schützen.

Je mehr Daten Sie preisgeben, desto transparenter werden Sie auch für die Geheimdienste…
Es obliegt mir, ob ich soziale Medien nutze. Es obliegt mir, den Account privat zu stellen, und was ich teile. Wenn Geheimdienste Spionagesoftware einsetzen, können sie auf alle meine Rechnerinhalte zugreifen, auf verschlüsselte Chats, kurz: Auf mein Leben, das ich nicht bereit war, im Netz zu teilen.

Und wie handhaben Sie es mit Google?
Ich habe ungefähr zehn Dienste auf meinem Rechner, die alle Google-Produkte blocken.

In «GRM» werden junge Aussenseiter zu Rebellen, die sich der entmenschlichten Künstlichen Intelligenz entgegenstellen. Ein Plädoyer für KI mit Gefühlen und Ethik?
Die KI ist eine Blackbox. Sie hat die Gefühle ihrer Programmierer, also keine. Kleiner Scherz. Der Einsatz von KI sollte wie der von Herbiziden nur sehr überlegt und gezielt erfolgen.

Als was sehen Sie die immer zahlreicheren Hacker, die Konzerne erpressen? Sind das idealistische Helden, die Multis in die Knie zwingen oder schlicht geldgierige, ordinäre Verbrecher?
Kriminelle mit guten Coding-Fähigkeiten.

Russische Hacker beeinflussen politische Debatten

Video: srf/Roberto Krone

Sie haben sich gegen das Antiterrorgesetz stark gemacht, über das wir im Frühling abgestimmt haben. Warum?
Es ist ein unscharfes, ungenaues, schwammiges Gesetz, das wie oben erwähnt, die Möglichkeit bietet, jede Bürgerin, jeden Bürger unter Verdacht zu stellen. Ein Gesetz, das das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat untergraben kann. Das missbraucht werden kann, um demokratische Rechte auszuhebeln. Es ist ein wirklich furchterregend mieses Gesetz und es ist ohne jede Not entstanden. Es fördert die Entsolidarisierung in unserem Land.

Es wurde angenommen. Müssen wir jetzt Angst haben, dass wir überwacht werden?
Nein, die Sorge hätten wir uns machen sollen, als wir das BÜPF (Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs Anm. d. Red) angenommen haben. Das Antiterrorgesetz ist nur die logische Konsequenz von BÜPF und dem Einsatz von Remote Forensic Software, also Staatstrojaner. All die schönen Daten, die gehortet werden, müssen ja zu irgendetwas gut sein. Vielleicht zum Platz eins in Europa: Wir haben die härtesten Polizeigesetze Europas zusammen mit dem laschesten Schutz unserer Privatsphäre.

Solange ich nichts Falsches gemacht habe, kann es mir doch egal sein, wenn mich der Staat überwacht, wir leben schliesslich in einer liberalen Demokratie.
Wer sagt, was falsch und richtig ist? Das ist hier die Frage. Und warum stellt ein Staat seine Bevölkerung unter Generalverdacht? Sollten unsere Vertreter uns nicht genauso vertrauen wie wir ihnen?

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56 Kommentare
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Ueli der Knecht
26.07.2021 00:18registriert April 2017
"Solange ich nichts Falsches gemacht habe, kann es mir doch egal sein, wenn mich der Staat überwacht"

Jedem, der mir an den Kopf wirft, "wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten", dem antworte ich:

Ich schütze meine Privatsphäre, nicht weil meine Handlungen fragwürdig wären, sondern weil es deine Vorurteile und Absichten sind.
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Satanarchist
26.07.2021 04:12registriert März 2019
Gutes Interview. Wir stehen erst am Anfang. Es wird noch viel schlimmer kommen.
538
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Bauchgrinsler
26.07.2021 00:10registriert Mai 2021
Wie recht sie doch hat!
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