Mario Fehr war 39 Jahre Sozialdemokrat. Doch das glaubte ihm je länger, je mehr kaum jemand mehr. Fehr, eines der Aushängeschilder der SP Kanton Zürich, distanzierte sich zunehmend von seiner politischen Heimat. Heute folgte der Schlussstrich: Fehr gab sein Parteibuch ab. Fehr, der bestgewählte Zürcher Regierungsrat, politisiert künftig parteilos.
Der Bruch und sein Abgang kamen nicht überraschend. Ungewöhnlich ist der Zeitpunkt, wie ein Rückblick auf Fehrs Karriere zeigt:
Blickt man in Fehrs Biografie, sieht man vor allem eins: Er war ein Senkrechtstarter, der als Jungpolitiker aus dem Zürcher Vorort Adliswil pointierte Schlagzeilen zu machen wusste. Und zwar mit linken Positionen. 1988 etwa, als er 29-jährig fast auf der nationalen Bühne in Erscheinung trat: Er war Jurist, ein politischer Niemand und forderte mittels kantonaler Einzelinitiative die Einführung von zwölf autofreien Sonntagen im Jahr.
Mit solchen Einzelinitiativen können in Zürich Bürgerinnen und Bürger Themen in den Kantonsrat bringen, ohne selbst Mitglied dort sein zu müssen. Sie sind zwar meistens chancenlos, doch Fehr hatte Glück: Das Kantonsparlament entschied, dass die Zürcher Stimmbevölkerung das letzte Wort darüber hat, ob autofreie Sonntage als Vorstoss ins Bundesparlament geschickt werden.
Der «Blick» titelte damals: Politiker wollen uns den Sonntag vermiesen! Fehr war damals zwar ein Politiker ohne Kantonsratsmandat. Das änderte sich aber 1991. Fehr kam ins Kantonsparlament, präsentierte sich dort als Freund der Landeskirchen (Fehr ist praktizierender Protestant), Feind von Sexual- und Triebtätern und Liebling der Medien: Er lieferte Stellungnahmen zu heiklen Themen und machte mittels Vorstoss publik, dass der Zürcher Statthalter rund 200'000 Franken verdiente, aber nicht einen Rappen an Steuern bezahlte.
Parallel dazu setzte er erste Akzente als eigensinniger Recht-und-Ordnung-Politiker, als er sich vehement gegen Einsparungen (auch bei der Polizei) wehrte. Die SVP, fast schon eifersüchtig darüber, dass ein Sozi nun bessere Polizeipolitik macht als sie selbst, warf Fehr laut dem «Tages-Anzeiger» während einer Debatte an den Kopf: «Wart nur, bis du vom Wasserwerfer abgespritzt wirst!»
Solche Szenen kamen gut an und bescherten Fehr Popularität. Der damals linkspositionierte «Tages-Anzeiger» bezeichnete Mario Fehr 1997 treffend als «Staubaufwirbler». Die «NZZ» warf ihm vor, er mache mit seiner Politik nur «Wahlkampf-Dampf». Fehrs Art schien aber authentisch gewesen zu sein, wenn man die Protokolle und Berichte von damals durchliest.
Was die Archive auch verraten: Fehr war – trotz Neigung zu «Law and Order» – durchaus Sozialdemokrat. So galt er als überzeugter Befürworter des EU-Beitritts (damit die organisierte Kriminalität besser bekämpft werden könne) und Kritiker der SVP-Asylpolitik, die Flüchtlinge abschieben wollte. «Das ist völkerrechtswidrig», schimpfte Fehr und warf der SVP vor, Wahlpropaganda zu machen.
1999 kam dann das wenig Überraschende: Fehr schaffte den Sprung in den Nationalrat. Er eckte nicht gross an und galt als moderater Bildungspolitiker, der sich auch mal für Homosexuelle und Tibet engagierte. Er galt zwar als rechter SPler, doch bekannte er sich öffentlich zu den Parteigrundwerten wie «Gerechtigkeit, Freiheit oder Chancengleichheit». Zu den klassenkämpferischen Tönen («Überwindung des Kapitalismus») sagte Fehr: «Ich halte es für richtig, dass eine Partei alle 20 bis 30 Jahre auch einmal über die Tagespolitik hinausdenkt.»
Fehrs Karriere dienten solche pragmatischen PR-Sätze: Er politisierte am rechten Rand der SP und zeigte gleichzeitig Loyalität mit den Radikalen. Er galt 2007 als perfekter Mann, um herauszufinden, wieso seine Zürcher SP dramatische Wähleranteile verloren hatte. Sein Fazit:
Er empfahl seiner Partei nicht, nach links oder rechts zu rücken, sondern ganz einfach «deutlicher, lauter und schneller» zu werden. Analysen, die niemanden verscheuchten. Im Gegenteil: Fehr wurde zum Aushängeschild der moderaten SP. Und so wunderte es niemanden, dass Fehr 2011 die Wahl in die Kantonsregierung schaffte. Und das mit einem Glanzresultat von 137'035 Stimmen, womit er mehr Stimmen holte als alle anderen Kandidierenden.
Fehr wurde Teil einer Kollegialbehörde: Er musste als Sozi auch mal das vertreten, was die Gesamtregierung entschied. Gewöhnlicherweise löst das in anderen Kantonen kaum grosse Streitereien aus. Fehr reagierte aber auch hier auf seine Art, weil er Differenzen zwischen Regierungs- und Parteimeinung öffentlich ausschlachtete, was Gegenreaktionen provozierte.
2015 führte das dazu, dass die Juso ihn anzeigte. Es ging um den Kauf eines Staatstrojaners, der aus jungsozialistischer Sicht illegal gewesen sein soll. Das Geschäft war tatsächlich dubios und wurde nur durch ein Datenleck bekannt. Es stellten sich viele Fragen – auch juristische. Doch Fehr nahm die Anzeige persönlich: Er sistierte seine Parteimitgliedschaft für mehrere Monate.
Es war nicht der einzige Moment, wo Fehr Politisches und Persönliches nicht unterscheiden konnte. So scheute er laut SP-Ständerat Daniel Jositsch die Diskussion mit andersdenkenden Parteimitgliedern, als es um die Nationalitäten-Nennung durch die Polizei ging. Kam Fehr aber in einem journalistischen Artikel schlecht davon, so griff er umgehend zum Telefon. Nicht wenige Journalistinnen und Journalisten, darunter der Autor dieser Analyse, wissen seither, wie ein wütender Fehr am Telefon klingt.
Diese politische Unart – andere Meinungen nicht anhören zu wollen und verbal zu entgleisen – spitzte sich zunehmend zu. Kritische journalistische Anfragen zu Verträgen mit Asylorganisationen blockte sein Departement ab. Sie endeten in Gerichtsurteilen gegen ihn. Kommunikativer zeigte sich seine Behörde aber, als zwei Geflüchtete im Erlenhof bei der Langstrasse im Herbst 2020 aus dem Fenster stürzten: Zehn Prozent der Medienmitteilung drehte sich um den Vorfall, in den übrigen Zeilen wurden Asylsuchende pauschal als Kriminelle beschimpft.
Die gefärbte offizielle Kommunikation des Kantons zum Unfall widersprach den grundsätzlichen Regeln, die sich der Kanton selbst für Behördenkommunikation gab. Die SP distanzierte sich zudem von ihm öffentlich und kritisierte Fehrs Verhalten. Der kantonale SP-Chef Andreas Daurù liess sich von SRF folgendermassen zitieren: «Es ist nicht zielführend, wenn die Sicherheitsdirektion eine sehr launische Medienmitteilung veröffentlicht.»
Der Blick zurück zeigt: Fehr veränderte sich. Er wurde für die Partei zunehmend untragbar, was sie ihm auch offen zeigte. Zunächst hinter geschlossenen Parteibürotüren. Seit heute auch öffentlich: Die SP wollte ihn nicht mehr für eine weitere Amtszeit im Regierungsrat empfehlen.
Abgemacht war, zu Ende der Sommerferien zu informieren. Gemeinsam. Fehr preschte aber vor und lud mit einer Frist von 90 Minuten alle Medienschaffenden zu einer Pressekonferenz über seine «politische Zukunft» ein. Dort erklärte er seinen Parteiaustritt und liess sich in einer Erklärung zu einer Schimpftirade gegen seine ehemalige Partei hinreissen.
Fehr, der einst eine regierungskritischere und lautere SP forderte, beschwerte sich darüber, wie sie mit dem eigenen Regierungsrat umgeht. Fehr, der einst Grundrechte Asylsuchender und Transparenz bei Behörden verlangte, beschwerte sich darüber, dass sich die SP veränderte. Die Nachfrage von watson, ob den nicht auch er sich selbst politisch verändert habe, liess er offen. «Das können Sie beurteilen», sagte Fehr. Der Blick zurück zeigt, dass Fehr auch eine Schuld am Bruch trägt.
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Die Nachfrage von watson, ob den nicht auch er sich selbst politisch verändert habe, liess er offen. «Das können Sie beurteilen», sagte Fehr