Lange, sehr lange ist es her. Am 15. Juni 2003 rast ein 17-jähriger Emmentaler beim GP von Katalonien in Barcelona im 125er-Rennen sensationell hinter Dani Pedrosa auf den 2. Platz. Es ist der erste Podestplatz eines Schweizers seit Heinz Lüthi (mit Tom Lüthi nicht verwandt) am 26. Mai 1991 beim GP von Deutschland den 3. Rang erreicht hatte. Es ist der Beginn einer ruhmreichen Epoche. Tom Lüthi gehört in den nächsten 17 Jahren zu den besten Töffrennfahrern der Welt, wird 2005 Weltmeister (125 ccm) und vor Roger Federer (!) Sportler des Jahres. Bis heute hat er 65 Podestplätze herausgefahren (17 Siege). Unser Töffrennsport erlebt eine Renaissance. Auch Dominique Aegerter schafft den Aufstieg in die Weltelite und gewinnt den GP von Deutschland (2014).
Nun sind wir am 25. September 2020 wieder in Barcelona. Auf der gleichen Strecke. Und diese ruhmreiche Epoche geht zu Ende. Sozusagen dort, wo sie einst begonnen hat. Die lange schwelende Unzufriedenheit im Team des deutschen Batterieherstellers Dynavolt hat zur vorzeitigen Verkündung der Scheidung geführt: Ende Saison wird Tom Lüthi dieses Team verlassen und wechselt in die Mannschaft von Edu Perales. Nun fährt er die restlichen sieben Rennen der Saison sozusagen im Status der Scheidung. Dieser frühe Zeitpunkt mag zeigen, wie tief das Zerwürfnis ist.
Noch im Februar hatte Tom Lüthis Manager und Freund Daniel Epp verkündet, mündlich sei man sich über eine Verlängerung der Zusammenarbeit längst einig. Es gehe nur noch darum, ob um ein oder zwei Jahre, ob bis 2021 oder 2022 prolongiert werde.
Was ist da schiefgelaufen? Wie kann es sein, dass ein Fahrer die ersten Tests dominiert und dann nicht mehr auch nur in die Nähe eines Podestplatzes kommt und die Rückstände auf die Spitze nicht mehr in Tausendstels einer Sekunde sondern in ganzen Sekunden misst? Daniel Epp sagt: «Die Antwort werden wir wohl erst in zwei oder drei Jahren wissen.» Es ist eine diplomatisch geniale Schutzbehauptung. Damit er nicht jetzt schon zu einer Analyse genötigt wird. Sein Fahrer muss ja noch bis zum Saisonende bei den Deutschen ausharren. Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen nicht weiter.
Was ist also schiefgelaufen? Die Antwort ist nicht länger als ein Satz: Technische Inkompetenz. Die Techniker im Team von Jürgen Lingg haben es diese Saison, anders als im ersten Jahr der Zusammenarbeit (2019), nicht mehr geschafft, die «Höllenmaschine» abzustimmen. Das einzige, was 2020 noch reibungslos funktioniert, ist die Kommunikationsabteilung, die Wochenende für Wochenende die tolle Zusammenarbeit, die hohe Motivation und die laufenden technischen Fortschritte feiert. Bis zur Lächerlichkeit.
Oder liegt es an Tom Lüthi? Er ist am 9. September 34 Jahre alt geworden geworden. Die neue Generation, die «jungen Wilden», die alles daran setzen, so schnell wie möglich in die «Königsklasse» aufzusteigen und fahren, als gäbe es keinen nächsten Tag, machen dem Emmentaler zu schaffen. Aber mit der Erfahrung aus mehr als 250 Rennen kann er den «Nachteil» der Vernunft immer noch weitgehend wettmachen. Aber in einem Sport am Rande der «Todeszone» entscheidet ein Wimpernschlag über Sieg und Niederlage.
Tom Lüthi ist nach wie vor Sieg- und Podestfahrer. Aber alles muss stimmen. Dazu gehört für den hochsensiblen «Asphaltcowboy» neben der technischen Infrastruktur auch die «Nestwärme» im Team. Und die hat er nicht mehr. Schon 2018 scheiterte er durch Querelen im Team beim einzigen Ausflug in die «Königsklasse». Nun, da die Trennung verkündet ist, könnte sich das Klima etwas entspannen. Nach dem ersten Trainingstag steht Tom Lüthi auf Platz 9.
Und 2021 also im Team von Edu Perales, wo er Remy Gardner (22) ersetzt. Der Sohn des ehemaligen Weltmeisters Wayne Gardner, im Moto2-WM-Gesamtklassement zurzeit 12. (Lüthi 9.), wechselt zu KTM. Perales ist seit gut 20 Jahren im Geschäft. Sein Team wird im Fahrerlager unterschätzt. Weil der Spanier eine Kunst verinnerlicht hat: Lerne jammern, ohne zu leiden. Seine High-Tech-Werkstatt in Sabadell 30 Kilometer ausserhalb von Barcelona gehört in die technische Champions League. Die technische Infrastruktur ist tadellos und der Teamchef kümmert sich bis zur Selbstaufgabe um seine Piloten. Die Nestwärme, die er braucht, wird Tom Lüthi hier finden.
Aber geschenkt wird Tom Lüthi auch bei den Spaniern nichts. Sein neuer Teamchef hat einen Leitsatz: «Der Fahrer muss wissen, was er braucht und dann bekommt er bei uns, was er braucht. Aber dann muss er etwas daraus machen.»
Kann Tom Lüthi 2021 noch einmal um Sieg und Podest fahren? Ja, wenn alles stimmt. Und wenn er mit der neuen Situation zurechtkommt. Er gehört jetzt nicht mehr zu der privilegierten Kaste der Fahrer, die vom Team bezahlt werden. Nun muss er erstmals Geld in die Teamkasse bringen. Aber sein Freund und Manager Daniel Epp sammelt immer noch mehr Geld bei den Sponsoren ein, als er beim neuen Team einzahlen muss. Tom Lüthi muss auch 2021 nicht darben.
Aber eine Epoche neigt sich dem Ende zu. Tom Lüthi ist der letzte seiner Art dieser Epoche. Dominique Aegerter siegt nur noch auf Batterie-Töffs, Jesko Raffin zittert nach einer Virus-Erkrankung um die Fortsetzung seiner Karriere, Randy Krummenacher hat in der Superbike-Szene sein Team im Krach verlassen.
Unsere letzten Hoffnungen für die nächsten Jahre ruhen auf Jason Dupasquier (19), der in der Moto3-WM noch keinen Punkt herausgefahren hat und auf Noah Dettwiler (15), der über die Einstiegsklasse «Rookies Cup» den Weg in den GP-Zirkus sucht.
Können diese beiden eine neue Epoche einleiten, ruhmreich wie jene, die nun zu Ende geht? Das wissen nur die Götter. Aber sie sagen es nicht.
Es ist immer etwas schwierig, das von aussen zu beurteilen, jedoch glaube ich nicht, dass es zu Lüthis Kernkompetenz gehört, ein Motorrad innert nützlicher Frist abzustimmen.