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Deutschland schliesst die Schulen, in der Schweiz bleiben sie offen

Zwei Primarschueler unterhalten sich, zum Schulbeginn nach dem Coronavirus-Lockdown, am Montag, 11. Mai 2020, in Kobelwald. Im Kanton St. Gallen wird vorerst in Halbklassen unterrichtet. Die Kinder si ...
In einigen Schweizer Schulen ist die mutierte und ansteckendere Form des Coronavirus aufgetaucht und ganze Schulhäuser wurden unter Quarantäne gestellt. Bild: KEYSTONE

Warum Deutschland die Schulen schloss – und die Schweiz im Blindflug ist

Die bisherige Wissensgrundlage zu Ansteckungen an Schulen ist dünn. Und so führt eine ähnliche Ausgangslage in Deutschland und der Schweiz zu unterschiedlichen politischen Entscheiden. Eine Auslegeordnung.
21.01.2021, 05:4722.01.2021, 06:09
Dennis Frasch
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Warum Deutschland die Schulen schloss

Seit Mitte Dezember befindet sich Deutschland im harten Lockdown. Schulen und Kitas sind geschlossen oder nur für Notbetreuungen geöffnet. Am Dienstag beschlossen die Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten, dass diese Massnahmen bis mindestens am 14. Februar verlängert werden sollen. Für Abschlussklassen gilt eine Ausnahmeregelung. Eltern erhalten zusätzliche Möglichkeiten, für die Betreuung der Kinder bezahlten Urlaub zu nehmen.

Merkel sagte am Dienstag, man habe um den Entschluss bei den Schulen «lange gerungen». Es gebe «ernst zu nehmende Hinweise», dass sich die neuen Virusmutationen auch unter Kindern und Jugendlichen stärker verbreiten können.

Tatsache ist, dass wie in der Schweiz auch in Deutschland seit Beginn der Pandemie die Rolle der Kinder umstritten ist. Die Einschätzungen reichen von «Virenschleudern» bis «unbeteiligt am Infektionsgeschehen». Die bisherigen Studien widersprechen sich teilweise. Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie oft Schulkinder am Coronavirus erkranken, nicht aber wie oft die Ansteckungen unbemerkt bleiben, weil sie einen asymptomatischen Verlauf haben. Laut einer Studie des Berliner Virologen Christian Drosten gibt es keine Hinweise darauf, dass Kinder mit Sars-CoV-2 nicht genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Es wird befürchtet, dass Kinder, selbst wenn sie kaum Symptome haben, die Krankheit trotzdem weitergeben können.

Dies ist wohl auch das ausschlaggebendste Argument, warum sich die Bundesregierung für das Schliessen der Schulen entschloss. «Die Frage ist, gehen wir auf Nummer sicher oder nicht.» So soll Merkel die Alternativen zur Schulschliessung während einer Sitzung formuliert haben.

Wo die Schweiz steht

Die Corona-Zahlen in der Schweiz nähern sich inzwischen jenen von Deutschland 24 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohnern im Durchschnitt der vergangenen sieben Tage. Anfang November war das aber frappant anders. Damals waren es 90 bestätigte neue Fälle in der Schweiz und 22 in Deutschland.

Während Merkel früh eine Schulschliessung als mögliche Massnahme ins Spiel brachte, wurde dies in der Schweiz nach dem ersten Lockdown im Frühling stets als Ultima Ratio abgelehnt. Seit in der Schweiz wieder die besondere Lage gilt, obliegt die Verantwortung über Schulöffnungen oder -schliessungen den Kantonen. In der Regel fand nach den Sommerferien an allen Schulen wieder Präsenzunterricht statt. Teilweise führten einzelne Universitäten Online-Vorlesungen durch.

Anfang November verbot der Bundesrat den Präsenzunterricht an Universitäten und höheren Schulen auf unbestimmte Zeit. In Schulen ab der Sekundarstufe 2 wurde die Maskenpflicht eingeführt. Einzelne Kantone gehen weiter und verlangen das Maskentragen im Unterricht auch für die Oberstufe der obligatorischen Schule.

Vor den Weihnachtsferien wurde heiss über verlängerte Ferien über die Festtage und nach Neujahr debattiert. Der Bundesrat überliess den Entscheid den Kantonen. Einige Schulen wurden entsprechend eine Woche vor Weihnachten geschlossen, Gymnasien erhielten im Januar vorerst Fernunterricht.

Ab der dritten Januarwoche, als erste Ansteckungen von Schülerinnen mit der mutierten Virusvariante B.1.1.7 bekannt wurden, verkam das Schweizer Schulsystem zum Flickenteppich. Der Wintersportort Wengen schloss seine Schulen, im Kanton Tessin mussten 500 Schüler und 70 Lehrerinnen in Quarantäne, in Frauenfeld ein ganzer Jahrgang mit 100 Schülerinnen, auch in den Kantonen Zug und Zürich kam es zu Quarantäneverordnungen. Im zürcherischen Kilchberg wurde gar eine ganze Schule geschlossen, nachdem sich ein Schüler mit dem mutierten Virus angesteckt hatte.

Im Kanton Baselland gilt die Maskenpflicht neu für Schüler ab der 5. Primarklasse, in Volketswil im Zürcher Oberland werden die Kinder eines Schulhauses einem Schnelltest unterzogen. Am Mittwoch schreibt der Bundesrat in einer Mitteilung, er rate weiterhin von flächendeckenden Schulschliessungen ab. Man prüfe nun mögliche Szenarien für die Sekundarstufen 1 und 2 – falls sich die Lage verschlechtert.

Die Lehrer und ihr Ansteckungsrisiko

Mit der Virusmutation, die sich in Schulzimmern ausbreitet, steigt die Angst der Lehrer vor einer Ansteckung. Sie fordern einen Impfvorrang oder die Gratisabgabe von FFP2-Masken. Wie exponiert Lehrpersonen gegenüber einer Infektion sind, ist erst ungenügend erforscht. Ebenso, ob die Mutation für Kinder gefährlicher ist als die herkömmliche Variante.

Gestützt auf kantonale Daten berechnete ein Journalist von SRF, dass Baselbieter Lehrerinnen und Lehrer ein doppelt so hohes Risiko haben, an Sars-CoV-2 zu erkranken. Von 291'919 Personen im Kanton hätten sich 3,6 Prozent mit dem Coronavirus angesteckt. Von den 3046 Lehrerinnen und Lehrern auf Primarstufe seien 6,3 Prozent positiv getestet worden.

Zu einem anderen Resultat kommt die «Ciao Corona»-Studie der Universität Zürich, bei der im Oktober und November 2500 Schülerinnen und Lehrer auf Antikörper getestet wurden. Dabei zeigte sich, dass sich die Kinder und Lehrpersonen praktisch gleich häufig infizieren wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Zu einem Cluster sei es an keiner Schule gekommen, so die Studienleiter.

Aufschluss über die Infektionsrate bei Kindern gibt eine grossangelegte israelische Studie, herausgegeben Ende Oktober vom dortigen Gesundheitsministerium. Dabei wurden rund 680'000 PCR-Tests bei Kindern und 2,6 Millionen Erwachsenen untersucht. Die Positivitätsrate lag bei den Kindern bei 8 Prozent, zwei Prozent mehr als bei den Erwachsenen.

Noch markanter war der Unterschied bei Antikörpertests. 7,1 Prozent der untersuchten Kinder wiesen Antikörper auf, bei den Erwachsenen lag der Wert zwischen 1,7 und 4,8 Prozent. Diese Zahlen zeigen zwar eindrücklich, dass Kinder keinesfalls vor Ansteckungen gefeit sind, Antworten zum Übertragungsrisiko liefert auch diese Studie aber keine.

Die Frage der Mobilität

Die ETH Zürich hat Anfang Januar eine Studie veröffentlicht, die die Mobilitätsdaten der Schweizer Wohnbevölkerung vom Frühling 2020 mit denjenigen vom Frühling 2019 verglichen hat. Anhand anonymisierter Handydaten konnten die Forscher genau nachweisen, wie sich einzelne Massnahmen auf die Mobilität der Bevölkerung ausgewirkt haben.

Die Forscher sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Schulschliessungen zu einer der effektivsten Massnahmen gehörten, um die Mobilität zu senken. Eine Reduktion von knapp 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr wurde festgestellt. Nur die Personenbeschränkung auf fünf Leute (24,9 Prozent) und Schliessungen von Restaurants, Bars und Geschäften (22,3 Prozent) waren noch effektiver.

Schulschliessungen bewirken, dass nicht nur die Schüler und Lehrer, sondern auch vermehrt die Eltern zuhause bleiben. Und eine generelle Mobilitätsreduktion hat zur Folge, dass sich das Virus schlechter verbreiten kann.

Die Folgen der Schulschliessungen

Obwohl sich Belege für die positiven epidemiologischen Effekte von Schulschliessungen häufen, ziert man sich in der Schweiz vor einem abermaligen Schliessen der Bildungseinrichtungen. Selbst die Taskforce spricht sich derzeit noch dagegen aus. Wieso?

Einerseits, weil nach wie vor nicht genau klar ist, welche Rolle Kinder tatsächlich in dieser Pandemie spielen, und andererseits, weil die Auswirkungen auf die Kinder gravierend sein können. So sagte die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, gegenüber SRF: «Wir haben festgestellt, dass rund ein Drittel der Schüler im Fernunterricht im Frühjahr wenig bis nichts gelernt hat.»

Dahinter dürften sozioökonomische Gründe stecken. Vor allem Kindern aus tieferen sozialen Schichten fehlt es oftmals an der richtigen Infrastruktur, um von zuhause aus lernen zu können. Sei es, weil zu wenig Platz vorhanden oder der Laptop nicht gut genug ist. Studien weisen darauf hin, dass solche ausserschulischen Faktoren einer der Hauptgründe für Ungleichheiten in den Bildungsergebnissen sind.

Weitere Studien weisen darauf hin, dass Schulschliessungen die persönliche Entwicklung beeinträchtigen können, da den Kindern die soziale Interaktion mit Gleichaltrigen fehlt. Ebenso kann das psychische Wohlbefinden gestört werden.

«Schulschliessungen light» als Mittelweg

All diese Dimensionen machen es der Politik extrem schwer, Schulschliessungen durchzusetzen. Und doch scheint der Schritt mit dem Aufkeimen der neuen Virusmutationen aus Grossbritannien und Südafrika immer unumgänglicher.

Dabei gibt es jedoch Möglichkeiten für Abstufungen, die vor allem schlechter gestellte Kinder vor negativen Auswirkungen bewahren könnten. So haben Kinder in Deutschland Anspruch auf Notbetreuung, wenn die Eltern von ihren Arbeitgebern als unabkömmlich gelten oder wenn es für das Kindeswohl unausweichlich ist.

Auch in der Schweiz gibt es Ansätze für ein Notmodell. So schlug Stefan Wolter, Bildungsökonom und Mitglied der Science Taskforce vor, dass Schulen auch bei der Umstellung auf Fernunterricht offen bleiben sollten und einzelne Schüler einen Arbeitsplatz angeboten und Unterstützung von Lehrpersonen erhalten sollten. «Der Schreinerlehrling muss an der Maschine üben, eine schwache Schülerin braucht zusätzliche Unterstützung und nicht überall lässt die häusliche Situation das Lernen gleich gut zu», sagte Wolter gegenüber watson.

Ebenfalls gibt es die Möglichkeit, in einem ersten Schritt nur Mittel- und Berufsschulen zu schliessen, da Kinder im Jugendalter weitaus weniger unter Schliessungen leiden als solche in den Primarstufen und vorher. Zurzeit verdichten sich die Anzeichen, dass der Bundesrat solche partielle Schliessungen ins Auge fasst. So hat er bei der Task-Force und bei der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren Berichte zu möglichen weiteren Massnahmen eingefordert.

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137 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Neunauge
21.01.2021 06:36registriert November 2014
Als Lehrperson muss ich leider sagen, dass ich mich von der EDK weder ernst genommen noch vertreten fühle. Gerade Frau Steiner scheint total überfordert.

In unserem Schulhaus steckt sich im Schnitt pro Woche eine Lehrperson an. Und wer glaubt, dass sich pubertierende Jugendliche nach einem halben Jahr nicht an einem Schutzkonzept abmühen, hat vergessen wie es war, 14 zu sein.

Und noch waa zu dem Drittel, der nichts gelernt haben soll. Ja, es gibt solche Jugendliche, die Frage lieht da beim Delta. Und es gibt auch die, die durch den Lockdown gelernt haben Verantwortung zu übernehmen.
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Hugobert
21.01.2021 06:55registriert Juni 2019
Bis jetzt waren Ansteckungen zumindest an der Primarschule sehr rar gesät mit den momentanen Schutzkonzepten.
Eine andere Beobachtung ist, dass wir mittlerweile eine Gesellschaft haben, die das Krank sein nicht mehr ermöglicht. Kinder können sich kaum richtig erholen und werden nach kurzer Zeit zurück in die Schule geschickt. Des weiteren scheint es mir auch fragwürdig, dass viele Paare so viel arbeiten müssen/wollen, dass Kinderbetreuung (Bsp. Lockdown Frühling) zum Horrorszenario wird. Eine Gesellschaft, in der Eltern nicht mehr als je 70% arbeiten müssen, wäre möglich und erstrebenswert.
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FromB
21.01.2021 07:04registriert Oktober 2020
Bevor hier die nächsten Katastrophenszenarien ausgerufen werden, würde ich aktuell darauf hinweisen, dass die Zahlen am sinken sind und man diese voreiligen Schlüsse noch nicht ziehen sollte.
Im Frühling letztes Jahr hat die Schweiz zB die Zahlen auch ohne jegliche Masken in der Öffentlichkeit reduzieren können auf quasi 0.
Von daher glaube ich durchaus, dass man gewisse Massnahmen aussetzen kann, wenn man über ihre Auswirkung nicht so sicher ist und mehr schaden befürchtet.
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