Deutschland galt lange als Corona-Vorbild. Kaum ein europäisches Land, die Schweiz inbegriffen, war so gut durch die erste Welle im letzten Frühjahr gekommen. Umso grösser ist der Kontrast zur aktuellen Lage. Seit November gilt ein Lockdown, und ein Ende scheint nicht in Sicht. Nur punktuell gab es Öffnungen, für Schulen, Kitas oder Coiffeure.
Bei den Deutschen, die als eher geduldig und leidensfähig gelten, wächst der Unmut. Sie vermissen ihre Freiheiten, den Besuch von Restaurants oder Konzerten. Die direkt Betroffenen, ob Kulturschaffende oder Kleinunternehmer, verzweifeln zunehmend, auch wegen zu geringer finanzieller Hilfen, die erst noch verzögert ausgezahlt werden.
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Die deutsche Gründlichkeit kommt an ihre Grenzen, denn die Politik wirkt ratlos. Die Fallzahlen stagnieren, die Mutationen sind auf dem Vormarsch. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), bis vor kurzem als zukünftiger Bundeskanzler gehandelt, eiert nur noch herum. Die Krise beschädigt auch das Image von Kanzlerin Angela Merkel.
Für die Misere kann man sie nicht allein verantwortlich machen. Wie in der Schweiz spielt der Föderalismus eine grosse Rolle. Es ist bekannt, dass Merkel im Herbst gerne härtere Massnahmen ergriffen hätte. Damit wäre Deutschland vielleicht besser durch die zweite Welle gekommen, aber sie konnte sich bei den Bundesländern nicht durchsetzen.
Am Mittwoch kam es zu einem weiteren «Krisengipfel» mit den Ministerpräsidenten. Mit dem Ergebnis, dass die Verwirrung komplett ist. Noch vor drei Wochen hiess es, dass weitere Lockerungen erst bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 35 Fällen pro 100’000 Einwohnern erfolgen sollten. Jetzt sollen sie schon bei 100 Fällen möglich sein.
Dieser Zickzack-Kurs dürfte dazu führen, dass immer mehr Menschen die Massnahmen nicht mehr mittragen. Auch Medien, die die Corona-Politik bislang unterstützt hatten, gehen auf Distanz, etwa die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. «Wer steigt da noch durch?», fragte sich die ARD. Für den Chef des «Spiegel»-Hauptstadtbüros haben Merkel und die Länderchefs kapituliert.
Die CDU-Kanzlerin hat sich in ihrer bald 16-jährigen Amtszeit einen Ruf als versierte Krisenmanagerin erworben. Unvergessen bleibt, wie sie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 mit Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) den Deutschen versprach, ihre Sparguthaben seien sicher. Damit verhinderten sie wohl eine Bankenpanik.
Noch denkwürdiger bleibt Merkels «Wir schaffen das!» während der Flüchtlingskrise 2015. Tatsächlich hat Deutschland sie gut bewältigt, wie andere grosse Herausforderungen, etwa den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Wiedervereinigung von BRD und DDR. Die Pandemie aber bringt das Land offensichtlich an seine Grenzen.
Angela Merkel ist sehr gut im Reagieren. Strategisches Denken aber ist nicht ihre Stärke. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Digitalisierung. Die Kanzlerin hat viel darüber geredet und wenig geliefert. Deutschland gilt als «Funkloch» Europas, Gesundheitsdaten werden per Fax übermittelt, die Schulen waren für den Fernunterricht schlecht gerüstet.
Als Physikerin hört Angela Merkel auf die Wissenschaft. Das ist nicht nur von Vorteil. Kritiker meinen, die 66-Jährige vertiefe sich in Statistiken und Modellrechnungen und verliere den Blick auf das Ganze und die Menschen. Wenig hilfreich ist, dass ihre rechte Hand, Kanzleramtsminister Helge Braun, als Intensivmediziner ebenfalls «vom Fach» ist.
"Das, was wir in den nächsten Tagen besprechen werden ist, ob wir die zusätzlichen Kontakte, die bei Öffnungen entstehen, dadurch besonders sicher machen können, dass wir deutlich mehr testen", sagt @HBraun bei #AnneWill. #Coronavirus pic.twitter.com/NREXEqHJty
— ANNE WILL Talkshow (@AnneWillTalk) February 28, 2021
Braun tritt häufig in den Fernseh-Talkshows auf und wirkt dabei wie die gesamte Politik zunehmend ratlos. Dabei steht Deutschland in mancher Hinsicht besser da als die vergleichsweise liberale Schweiz. Die Fallzahlen sind tiefer, und anders als bei uns sind Selbsttests und der umstrittene Impfstoff von AstraZeneca bereits zugelassen.
Allerdings fehlt für beides eine brauchbare Strategie. Sie soll nun entwickelt werden. «Warum erst jetzt?», fragt sich der «Spiegel». Versäumnisse gab es in vielen Bereichen, aber beim Impfen wirken sie besonders krass. Noch im Januar zeigte man mit dem Finger auf die EU, weil sie zu wenig und zu langsam bestellt habe. Nun bleibt der Impfstoff vielerorts liegen.
Dass es auch anders geht, sieht man in der schwäbischen Universitätsstadt Tübingen. Dort wird zügig geimpft, auch mit AstraZeneca, das die Deutschen angeblich nicht wollen. In Tübingen zeigt sich, dass der schlechte Ruf überwunden ist. Die Leute stehen gemäss «Spiegel» für den britisch-schwedischen Impfstoff regelrecht Schlange.
Tübingen gilt als deutsche Corona-Vorzeigestadt. Dafür verantwortlich ist nicht zuletzt der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer. Er ist bekannt dafür, keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Weil er sich mehrfach kritisch zur Migration äusserte, wurde auch schon sein Rauswurf aus der Partei gefordert. Doch Palmer liefert, etwa beim Testen.
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) erklärt bei #DieRichtigenFragen seine Strategie für den Ausweg aus dem Dauer-#Lockdown. #Corona pic.twitter.com/RD5DL3vcsj
— BILD (@BILD) February 15, 2021
So setzte er früh auf Massentests in Altersheimen und machte mit dem «Tübinger Modell» bundesweit Schlagzeilen. Zuletzt beschaffte Boris Palmer Schnelltests für den Eigengebrauch, bevor sie zugelassen waren. «Ich warte doch nicht auf eine Erlaubnis zum Nasebohren», lästerte er in der «Bild» und meinte, man solle ihn halt einsperren.
Es sind typische Palmer-Sprüche, doch der Bürgermeister legte den Finger auf einen wunden Punkt: «Wir stehen uns immer selbst im Weg. Deutsche Gründlichkeit ist wichtig und richtig, aber nicht in solchen Notsituationen.» Der «Spiegel» sieht es ähnlich: «Dieses Land ist viel zu oft einfach zu träge, zu bürokratisch, zu wenig kreativ.»
Die Regulierungswut und der wenig bürgerfreundliche deutsche Beamtenapparat sind berüchtigt und ein Teil des Corona-Problems. Doch auch in anderen Bereichen zeigt das deutsche Modell zusehends Risse. Die wichtige Autoindustrie hat zu lange auf den Diesel gesetzt, mit teils «unsauberen» Mitteln, und die Elektromobilität verschlafen.
Nun ist sie am Aufholen, was durchaus gelingen könnte. «Made in Germany» geniesst international nach wie vor einen exzellenten Ruf. Das zeigt sich auch bei den Impfstoffen gegen das Virus. Der grosse Durchbruch gelang der Mainzer Firma Biontech, und auch Curevac – mit Sitz in Tübingen! – hat ein viel versprechendes Vakzin entwickelt.
Bis die Impfungen wirken, wird es dauern. So lange muss Deutschland einen Umgang mit der Krise finden. Der Glaube daran schwindet zusehends. Interessant ist, dass in den Umfragen vor allem eine Partei zulegt: Es ist nicht die AfD, sondern die mehrfach totgesagte FDP, die einzige Partei im Bundestag mit einer ansatzweise staatskritischen Haltung.
Das könnte zu interessanten Konstellationen bei der Bundestagswahl im September führen. Angela Merkel wird dann nicht mehr als Kanzlerkandidatin antreten. Mit 16 Jahren wird sie gleich lang im Amt gewesen sein wie ihr Förderer Helmut Kohl, den sie später wie manchen potenziellen Rivalen eiskalt abservierte. Seine letzte Amtszeit war eine zu viel.
Heute überstrahlt Kohls Image als «Kanzler der Einheit» alle seine Defizite. Merkel hingegen muss befürchten, dass Corona ihre Kanzlerschaft überschatten wird. Und man sie nicht mit «Wir schaffen das!» in Verbindung bringt, sondern mit «Schaffen wir das?».
Wir können die Pandemie nicht als beendet erklären. Auch mir hängt es zum Hals raus.
Agieren wäre zweckmässiger.