Masha Gessen hat den Aufstieg von Wladimir Putin hautnah verfolgt und die erste Biografie über den russischen Autokraten verfasst. Später musste die kritische Journalistin in die USA flüchten. Dort hat sie ein Essay mit dem Titel «Autocracy: Rules for Survival» verfasst. Die erste Regel lautet: «Nimm ernst, was der Autokrat sagt. Wenn du denkst oder andere sagen, er übertreibe, dann höre nicht darauf. Das ist bloss unsere angeborene Tendenz zur Rationalisierung.»
Gessens Warnung gilt heute auch für die USA und den Möchtegern-Autokraten Donald Trump. Dieser hat seinen Willen sehr deutlich kund getan: Er will das Weisse Haus auf keinen Fall kampflos räumen. Er hält die Briefwahl für Betrug und behält sich vor, ein Resultat, das seinen Herausforderer Joe Biden zum Sieger erklärt, anzufechten. Deshalb will er noch vor den Wahlen die verstorbene liberale Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg durch eine konservative Nachfolgerin ersetzen.
Der US-Präsident denkt auch keine Sekunde darüber nach, dass er damit einen zentralen Grundsatz der Demokratie unterwandert: den friedlichen Übergang der Macht. Gestern erklärte er erneut: «Wir wollen sicherstellen, dass die Wahlen ehrlich über die Bühne gehen, doch ich bin nicht sicher, dass dies der Fall sein wird – wegen den unaufgefordert verschickten Wahlzetteln. Millionen davon wurden versandt. Wir werden sehen.»
Und erneut wetterte Trump: «Die Demokraten wollen einen Betrug durchziehen. Es ist ein Betrug, und dieser Betrug wird vor dem Supreme Court landen. Ein 4-4-Patt ist deshalb keine gute Situation.»
Dass der Präsident die Rechtmässigkeit der Wahlen im eigenen Land in Frage stellt, ist einmalig in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Es ist auch brandgefährlich. Der Politologe William A. Galston vom Brookings Institute erklärt denn auch in der «Washington Post»:
Zum gleichen Schluss kommt auch Geschichtsprofessor Chris Edelson in der «New York Times»:
Bernie Sanders folgt dem Ratschlag von Gessen. Der härteste Gegner Bidens in den demokratischen Vorwahlen erklärte gegenüber der MSNBC-Moderatorin Rachel Maddow:
Sanders befürchtet, dass Trump das Chaos nach den Wahlen ausnützen und sich mit Hilfe seines korrupten Justizministers William Barr vorzeitig zum Sieger ausrufen könnte. Deshalb will der Senator aus Vermont landesweit Hearings durchführen und die Amerikanerinnen und Amerikaner auf diese drohende Gefahr aufmerksam machen. Sanders betont:
Die Unverfrorenheit, mit der Trump seinen teuflischen Plan darlegt, macht inzwischen auch einige Republikaner nervös. Mehrere von ihnen – darunter Mitch McConnell, Marco Rubio und Lindsey Graham – haben erklärt, sie würden sich dafür verbürgen, dass eine allfällige Machtablösung friedlich über die Bühne gehen werde. Kein Mitglied der Grand Old Party hat es jedoch gewagt, dem Präsidenten öffentlich zu widersprechen.
Gegenwind erhält der Präsident auch von seinem eigenhändig ernannten FBI-Direktor Christopher Wray. Dieser erklärte gestern vor einem Komitee des Senats: «Wir haben historisch noch nie einen koordinierten Betrug bei einer wichtigen Wahl erlebt, sei es mittels Briefstimmen oder anderen Mitteln.»
Briefwahlen kennen in den USA nur wenige Staaten, und nur einer von ihnen, Nevada, ist umstritten. Trumps angeblicher Wahlbetrug ist daher reine Fiktion. Es ist somit offensichtlich, dass der Präsident damit von einer drohenden Niederlage ablenken will, denn die Umfragen deuten nach wie vor auf einen Sieg Bidens hin.
Na dann besteht kein Grund zur Panik. Dass McConnell und Graham stets zu ihrem Wort stehen und nicht zum opportunistischem Wendehals werden, sollte hinrichterlich...äh ich meine hinlänglich bekannt sein.