Im Kanton Zürich leben fast 42 Mal so viel Menschen wie im Kanton Uri. Bei Abstimmungen, die das Ständemehr erfordern, wiegt das Verdikt des kleinen ländlichen Kantons genau gleich viel jenes des grossen urbanen. Die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) scheiterte auch wegen Uri am Ständemehr (14.5 zu 8.5 Kantone). Eine hauchdünne Mehrheit des Volkes hingegen (50.7 Prozent) hiess das linksgrüne Anliegen gut. Kein Wunder, entbrannte noch am Sonntag eine heftige Debatte über den Föderalismus. Denn etwa ein Fünftel der Bevölkerung verfügt gegenüber den restlichen vier Fünftel über ein faktisches Vetorecht.
Juso-Präsidenten Ronja Jansen würde das Ständemehr deshalb am liebsten auf dem «Müllhaufen der Geschichte» entsorgen. Die ehemalige Grünen-Präsidentin Regula Rytz fordert derweil «gerechtere Repräsentationsregeln in der direkten Demokratie». Via Twitter unterbreitete sie einen Vorschlag, welche die frühere grüne Nationalrätin Leni Robert 1993 erfolglos ins Parlament brachte: Bloss ein qualifiziertes Ständemehr von zwei Dritteln kann ein Volksmehr aushebeln.
Die grüne Nationalrätin (und erste Regierungsrätin des Kantons Bern) hat 1993 eine Reform des Ständemehrs vorgeschlagen. Es ist Zeit, das endlich anzupacken - sonst bleibt die direkte Demokratie in der Schweiz in Schieflage! @GrueneCH @gruenebern pic.twitter.com/TKxhGdRmZt
— Regula Rytz (@RegulaRytz) November 29, 2020
Der aktuelle Grünen-Präsident Balthasar Glättli wird in der Wintersessession einen entsprechenden Vorstoss einreichen, wie «Telezüri» berichtet. Die Grünen wähnen die direkte Demokratie in Schieflage. Eine Minderheit der Kantone in der Romandie sei einmal mehr überstimmt worden von einer Mehrheit der Deutschschweizer Kantone, kritisierte Rytz.
Doch weshalb wurde das Ständemehr in der Schweiz überhaupt eingeführt? Die Väter der Verfassung des modernen Bundesstaats wollten 1848 verhindern, dass die grossen die kleinen Kantone politisch an die Wand drücken können. Nach dem Bürgerkrieg von 1847 ging es auch darum, einen Ausgleich zu schaffen und den unterlegenen katholischen Sonderbundkantonen (Die Zentralschweiz sowie Wallis und Freiburg) entgegenzukommen. Das Zweikammersystem mit National- und Ständerat und das Ständemehr sind Ausdruck dieser Rücksichtnahme.
In der Geschichte des Bundesstaates scheiterten bis jetzt 10 Verfassungsänderungen trotz Volksmehr am Ständemehr, die letzten acht davon in den vergangenen 50 Jahren. Viel häufiger kommt es zu «Beinahekollisionen», wie es Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, nennt. Das Paradebeispiel der EWR: 50.3 Prozent sagten am 6. Dezember 1992 Nein, 16 Stände lehnten den Beitritt ab.
«Schlechte Verlierer», rufen derweil die bürgerlichen KVI-Gegner jenen entgegen, die jetzt an den direktdemokratischen Spielregeln schrauben. Ronja Jansen scheine wenig Ahnung von Geschichte zu haben, twitterte etwa Kaspar Michel, Regierungsrat im Kanton Schwyz.
Die gleichberechtigte Berücksichtigung aller Kantone, unbesehen ihrer Grösse, sei ein wesentliches Merkmal der Schweiz. «Es ist richtig, dass die Schwelle für Verfassungsänderungen hoch liegt», sagt Michel. Als weitgehend autonome Staatswesen seien alle Kantone gleichermassen von einer Verfassungsänderung betroffen.
Das Thema Ständemehr rückt regelmässig auf die politische Agenda. Im Vorfeld zur Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 debattierte das Parlament intensiv darüber. Vorschläge wie eine unterschiedliche Gewichtung der Standesstimmen packten sie aber nicht in die neue Verfassung.
Das Risiko eines Totalabsturzes wäre riesig gewesen. Denn eine Hürde für eine wie auch immer geartete Reform des Ständemehrs scheint unüberwindbar: Die kleinen Kantone müssten ihre eigene Entmachtung besiegeln. Er habe ein ambivalentes Verhältnis zum Ständemehr, sagt Adrian Vatter. Die Idee von Regula Rytz und Balthasar Glättli betrachtet er als faktische Ausserkraftsetzung desselben.
In einem Gastartikel in der NZZ schlug er einst vor, dass ab einem Volksmehr ab 55 Prozent das Ständemehr nicht mehr gelten solle. Der Grundgedanke: Ein starkes demokratisches Votum überflügelt ein föderalistisches Votum. Aber auch Vatter hält eine institutionelle Reform des Ständemehrs für praktisch unmöglich. Eine Tatsache ist aber auch: Die Bevölkerung des Kantons Zürich ist im Vergleich zu jener in Appenzell seit Gründung des Bundesstaates um ein Vielfaches gewachsen.
Urs Altermatt, emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, plädiert für die Beibehaltung des Ständemehrs. «Es handelt sich um ein föderalistisches Element des Ausgleichs im Bundesstaat, welches das Zweikammersystem ergänzt sowie sprachliche und kulturelle Minderheiten sowie die kleineren und mittelgrossen Kantone schützt. Wenn die grossen Kantone diese immer überstimmen könnten, hätten wir ein schweres staatspolitisches Problem», sagt er. Altermatt weist darauf hin, dass sich die Schweizer Verfassung stark an die amerikanische anlehnt. Dort erzielte Hillary Clinton bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren auch das Volksmehr, aber Trump holte mehr Elektorenstimmen. Geändert wurde das Wahlsystem nicht. (aargauerzeitung.ch)
Überstimmen die Urbanen die Landschäftler bei einer Vorlage, welche vor allem die Landschäftler betrifft, dann ist es völlig in Ordnung (Jagdgesetz, Zweitwohnungsinitiative). Unterliegt man gegenüber den Landschäftlern, will man die demokratischen Spielregeln ändern.
Ich finde dies ein spannendes Demokratieverständnis der Grünen und Juso, welche sich gerne als Minderheitenschützer aufspielen. Minderheitenschutz ist nur gut, wenn er mit dem Wahlprogramm übereinstimmt.