Eigentlich ein ganz normaler Ort. Zumindest auf den ersten Blick. Misano Adriatico ist ein italienischer Badeort mit 13'621 Einwohnern an der adriatischen Riviera, rund 18 Kilometer südöstlich der Provinzhauptstadt Rimini. Hier ist 1972 eine 4,2 Kilometer lange Rennstrecke in Betrieb genommen worden.
Triumph und Drama liegen im Motorradrennsport nahe beieinander. Auf jeder Rennstrecke der Welt. Und wenn wir Glück haben, bleiben alle unversehrt. Wie soeben Dominique Aegerter (29).
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— CANAL+ MotoGP™ (@CanalplusMotoGP) September 20, 2020
Chute de Dominique Aegerter accroché par Tommaso Marcon 👀
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Er gewinnt am Samstag das Rennen der elektrischen Töffs und baut die Gesamtführung aus. Am Sonntag startet er aus der Pole Position und wird bereits in der zweiten Runde vom Italiener Tommaso Marcon (20) «abgeschossen» und um den Sieg gebracht. Er kann sich zwar wieder in den Sattel schwingen. Aber es reicht nur noch zum 16. Platz.
Dominique Aegerter fährt zum Zeitpunkt des Unfalles an zweiter Stelle. «Aber natürlich hätte ich gewinnen können.» So wie am Vortag. Als er in der letzten Runde aus der dritten Position heraus Jordi Torres und Matteo Ferrari auf brillante Art und Weise überholt und triumphiert.
Den Vorfall hat der Rohrbacher inzwischen auf dem Video angeschaut. «Einfach verrückt. Der Marcon fährt mir geradeaus und ungebremst ins Hinterrad.» Nur selten ist der Unfallverursacher so glasklar ersichtlich wie in diesem Fall. Immerhin hat sich Tommaso Marcon beim Schweizer entschuldigt. In englischer Sprache. Ist dabei das Wort «f…» gefallen? «Nein» sagt Dominique Aegerter. «Ich habe mich zusammengerissen und die Entschuldigung angenommen. Es bleiben noch zwei Rennen und ich muss nun einfach gewinnen. So einfach ist es.» Es ist sogar noch einfacher: wenn er sich in den zwei letzten Rennen am 10. und 11. Oktober in Le Mans zweimal vor Matteo Ferrari klassiert, kann es auch reichen.
Und dann sagt er in einer Stimmung zwischen Trotz und Resignation: «Entweder gewinne ich hier oder werde um den Sieg gebracht …» Und tatsächlich. 2017 gewinnt Dominique Aegerter in Misano bei strömendem Regen eines der dramatischsten Moto2-Rennen der Geschichte vor Tom Lüthi. Ein paar Tage später wird ihm der Sieg aberkannt. Wegen angeblich illegalen Substanzen im Getriebeöl. Ein Skandal, der nie aufgeklärt worden ist.
Aber Misano hat uns im Laufe der Jahre nicht nur Episoden um «gestohlene Siege» beschert, die nun mal zum Motorsport gehören. Je mehr wir uns mit dieser Rennstrecke befassen, desto mehr erkennen wir: Es gibt auch eine unheimliche Seite. Ja, es ist als laste ein Fluch auf Misano. Es ist nicht Aberglaube, der mich auf diesen Gedanken bringt. Es ist der Blick in die noch recht junge Geschichte dieses Ortes.
Die Stimmung ist hier eine ganz besondere. Vielleicht ist es die Nähe zum Strand. Die Ferienatmosphäre und die lateinische Lebensfreude, die so unvermittelt wie sonst nirgendwo auf eine der «gnadenlosesten» Sportarten treffen, die keinen einzigen Fehler verzeiht. Möglicherweise ist es auch ein wenig das Wetter: Es kann hier schneller wechseln als bei uns im April. Soeben musste das Moto2-Rennen unterbrochen und neu gestartet werden, weil es fast aus heiterem Himmel geregnet hat. Tom Lüthi ist auf Platz 9 gefahren.
Die Rennstrecke ist auf dem Plateau hinter dem Ort angelegt und schon die Fahrt dorthin mahnt daran, dass es – wie Zyniker sagen – diesem rauen Business Kränze nur für die Sieger und die Toten gibt. Die Strasse hin zur Rennstrecke trägt den Namen «Viale Daijiro Kato». In Gedenken an den japanischen Rennfahrer aus dem Team des Italieners Fausto Gresini, der im April 2003 an den Folgen seines Sturzes beim GP von Japan gestorben ist. Und die Rennstrecke heisst «Misano World Circuit Marco Simoncelli». In Gedenken an den italienischen Rennfahrer Marco Simoncelli, der im Oktober 2011 in Malaysia sein Leben auf der Rennstrecke verloren hat. Er fuhr auch im Team von Fausto Gresini.
In Misano stürzte Weltmeister und WM-Leader Wayne Rainey am 5. September 1993 in Führung liegend so unglücklich, dass er seither an den Rollstuhl gefesselt ist. In Misano hat Dominique Aegerters Teamkollege Shoya Tomizawa am 5. September 2010 im Moto2-Rennen sein Leben verloren. Im Mai 2017 erlag Nicky Hayden, 2006 Weltmeister der «Königsklasse», an den Verletzungen, die er sich bei einem Unfall im Training mit dem Rennvelo auf der Strasse unweit von Misano zugezogen hatte.
Vielleicht ist das alles nur Zufall. Wer sich intensiv mit dem Töffrennsport befasst, sollte sowieso aufpassen, dass er nicht abergläubisch wird. Aber als ich mich mit Jean-Claude Schertenleib über den «Fluch von Misano» unterhalte, wird mir doch etwas seltsam zu Mute. Der Neuenburger ist einer der weltweit grössten Experten. Er hat für den Weltsportverband FIM die gesamte GP-Geschichte aufgearbeitet und schon über 500 Rennen vor Ort verfolgt.
Er erzählt, nun auch ein bisschen nachdenklich geworden, dass er bisher bloss ein einziges Mal in einen Verkehrs-Unfall verwickelt worden ist: auf der Fahrt nach Misano mit einem Freund. Der ehemalige Rally-Pilot sass ausnahmsweise auf dem Beifahrersitz als der Wagen von der Strasse abkam und sich überschlug. Die beiden hatten Glück im Unglück und krochen praktisch unverletzt aus dem Wrack.
Und dann kommt mir in den Sinn: Ein einziges Mal bin ich auf der Rückfahrt von einem Grand Prix mit Reifenschaden auf der Autobahn stehen geblieben. Stundenlang. Bei der Rückreise von Misano. Vielleicht ist es ganz gut, dass es dieses Jahr wegen der Virus-Krise nicht möglich ist, vor Ort zu berichten. Und dann erzählt mir Jean-Claude Schertenleib noch etwas: «Weisst Du, dass Pierfrancesco Chili an Parkinson erkrankt ist?». Das kann doch nicht wahr sein! Er ist erst 56.
Der blonde Italiener hat ein einziges Rennen in der «Königsklasse» gewonnen.
In Misano.