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Zehntausende fordern Nawalnys Freiheit - viele Verhaftungen

Nawalny-Proteste in Russland

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Nawalny-Proteste in Russland
In Russland haben tausende Menschen für die Freilassung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny protestiert.
quelle: keystone / dmitri lovetsky
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Zehntausende Russen fordern Nawalnys Freiheit – Ehefrau Julia unter den Verhafteten

23.01.2021, 21:0823.01.2021, 21:42
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In einer beispiellosen Protestwelle haben Zehntausende Menschen in ganz Russland für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny und gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert. «Freiheit für Nawalny!» und «Putin, uchodi!» – zu Deutsch: «Putin, hau ab!», skandierten die Menschen in Dutzenden Städten im flächenmässig grössten Land der Erde. Die Proteste vom äussersten Osten des Landes bis nach Kaliningrad an der Ostsee richteten sich gegen die politische Verfolgung Andersdenkender. In Moskau kam es zu Zusammenstössen der Polizei mit Demonstranten. Es gab Dutzende Verletzte.

Bürgerrechtler zählten bis Samstagabend landesweit mehr als 2600 Festnahmen. Das Portal Owd-Info gab die Zahl der Festnahmen allein in Moskau mit rund 800 an, in St. Petersburg waren es mehr als 300. Menschenrechtler listeten insgesamt rund 100 Städte auf, in denen Demonstranten in Polizeigewahrsam kamen. Am Abend wurden in Moskau auch mehrere Demonstranten festgenommen, die sich vor dem Gefängnis versammelt hatten, in dem Nawalny einsitzt.

Auch in Deutschland demonstrierten Menschen für die Freilassung Nawalnys. In Berlin zogen rund 2000 Menschen in einem Protestzug an der russischen Botschaft vorbei. In Düsseldorf demonstrierten auf dem Marktplatz 200 Menschen für Nawalny.

Auch Nawalnys Frau verhaftet

In Polizeigewahrsam kamen erstmals auch Nawalnys Ehefrau Julia und zum wiederholten Mal auch seine Mitarbeiterin Ljubow Sobol. «Putin wor» - «Putin ist ein Dieb!» - riefen die Menschen in Moskau und vielen anderen Städten. Es war der Satz des Tages, der die vielen Demonstranten im ganzen Land auch über die riesigen Distanzen miteinander verband. Dabei ging es nicht nur um dem Raub von demokratischen Freiheitsrechten, viele riefen: «Russland wird frei sein!».

Dass Putin als Dieb bezeichnet wird, hängt vor allem mit den Korruptionsvorwürfen gegen ihn und seinen Machtapparat zusammen. Nawalny deckt diese Machenschaften seit Jahren auf - und hat deshalb besonders viele Feinde in der russischen Führung.

Der Clou: In seinem jüngsten Enthüllungsvideo zeigt Nawalnys Team unter dem Titel «Ein Palast für Putin» erstmals überhaupt Bilder, Augenzeugenberichte und Dokumente zu Russlands grösstem privaten Anwesen. Der Putin-Gegner hält es für erwiesen, dass das milliardenschwere «Zarenreich» mit eigener Eishockey-Arena, Hubschrauber-Landeplatz, Casino und Aquadisco dem Präsidenten gehört. Finanziert worden sein soll es aus Schmiergeldern, die der Kremlchef von seinen Freunden in Staatskonzernen und von Oligarchen erhält.

Der Kreml weist das als Unsinn zurück. Doch auch Tage nach der Veröffentlichung des Videos mit 70 Millionen Aufrufen bis Samstagnachmittag hat sich noch niemand zu dem Grundstück am Schwarzen Meer bekannt. Das dürfte die ohnehin laut Soziologen inzwischen verbreitete Proteststimmung in Russland noch einmal zusätzlich aufgeladen haben.

Allein in der Hauptstadt Moskau sprachen Unterstützer Nawalnys von 40 000 Teilnehmern. Die Polizei gab die Zahl deutlich niedriger an. Am Abend kam es teils zu schweren Zusammenstössen mit der berüchtigten Sonderpolizei OMON. Demonstranten durchbrachen Absperrungen mit Metallgittern und warfen mit Feuerwerkskörpern und Schneebällen. Die Uniformierten prügelten im Gegenzug mit Schlagstöcken auf die vorwiegend jungen Demonstranten ein.

Vorbeifahrende Autos hupten aus Solidarität für die Demonstranten. «Ich möchte nicht in einem Russland leben, wie wir es jetzt haben», sagte die 30-jährige Irina einem Reporter der Deutschen Presse-Agentur. «Wir haben keine Demokratie.» Unter den Teilnehmern am zentralen Puschkin-Platz waren viele Jugendliche - obwohl Behörden sie im Vorfeld besonders abzuschrecken versucht hatten. Hochschulen drohten etwa Studenten mit Rauswurf. In St. Petersburg nahmen Demonstranten den berühmten Newski-Prospekt ein.

Demonstrieren bei minus 56 Grad

Der Oppositionsführer war am Montag nach seiner Rückkehr aus Deutschland bei Moskau in einem umstrittenen Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt worden war. Nawalny soll gegen Meldeauflagen in einem früheren Strafverfahren verstossen haben, während er sich in Deutschland von einem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok erholte. Der 44-Jährige sieht das Vorgehen der Justiz als politisch motiviert an. Ihm drohen viele Jahre Gefängnis - sowie mehrere Gerichtsverfahren.

Aufgrund der Zeitverschiebung mehrere Stunden vor den Menschen in Moskau waren in anderen Städten bereits Tausende Demonstranten auf die Strassen gegangen - im fernöstlichen Jakutsk sogar bei eisigen Temperaturen von minus 56 Grad Celsius. Vielerorts blieb das befürchtete brutale Vorgehen von Sicherheitskräften aus. Wegen der Corona-Pandemie werden in Russland schon seit Monaten keine Kundgebungen mehr genehmigt. Menschenrechtler sehen das als Vorwand, um die Opposition zum Schweigen zu bringen.

Wie erfolgreich der Protestaufruf der Opposition letztendlich sein würde, war bis zuletzt nicht absehbar gewesen. Am Ende des Tages stand fest: Viele russische Städte hatten die grössten ungenehmigten Proteste seit Jahren erlebt - darunter auch das sibirische Tomsk, wo Nawalny vor fünf Monaten vergiftet worden war. Die Staatsmacht habe zwei Fehler gemacht, kommentierte die Politologin Tatjana Stanowaja: «Die Vergiftung Nawalnys und seine Verhaftung.»

Nawalny sieht ein «Killerkommando» des Inlandsgeheimdienstes FSB unter dem Befehl Putins für den Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok im August verantwortlich. Der Präsident und der FSB weisen das zurück. Russland bestreitet gar, dass es überhaupt einen Anschlag gab. Mehrere Labore, darunter eines der Bundeswehr, haben die Nowitschok-Vergiftung bestätigt. Die EU hat deshalb Sanktionen gegen Russland verhängt.

Auch im Ausland versammelten sich Nawalny-Anhänger vielerorts zu Protestaktionen, unter anderem in Berlin, Finnlands Hauptstadt Helsinki und im polnischen Warschau. Die Freilassung Nawalnys hatten unter anderen auch die EU und Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert. Russland aber verbittet sich eine Einmischung in innere Angelegenheiten. Die Proteste sollen weitergehen. (sda/dpa)

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Robba
24.01.2021 00:25registriert November 2019
Erst einmal, liebes Whatson Team,

vielen Dank dass Ihr weiter berichtet.

Dann,

ich hoffe dass Ihr das auch noch in 3 - 4 Wochen tut.
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Hinweisgeber
23.01.2021 22:57registriert Januar 2021
Wenn jetzt der Westen insbesondere Deutschland nicht so langsam ernsthafte Reaktionen zeigt und einfach weiter zu den Umständen schweigt, machen sich alle Schuldig und müssen nicht mehr betonen wie wichtig die Demokratie und freie Meinungsäuserung ist. Mord, Inhaftierungen, Folter sind nicht zu dulden, die Diktatoren der Welt müssen Wissen das Europa dieses nicht akzeptiert. Straffzölle, Einreiseverbote für Russen, Ausschluss aller Sportvereine und Verbände aus den Wettbewerben die in Europa stattfinden.
Machthaber Putin nicht mehr mit allen Ehren Empfangen.
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Varanasi
23.01.2021 22:11registriert August 2017
Navalny Ehefrau ist inzwischen wieder frei gelassen worden.

Übrigens ist das „Symbol“ dieser Proteste eine Toilettenbürste (viele hatten die auch vergoldet), weil Putins goldene Clobürste 700.- USD kosten soll. Das verdienen nicht mal 10% der russischen Bevölkerung monatlich.
Zehntausende Russen fordern Nawalnys Freiheit – Ehefrau Julia unter den Verhafteten\nNavalny Ehefrau ist inzwischen wieder frei gelassen worden. 

Übrigens ist das „Symbol“ dieser Proteste eine ...
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