Ähnlich wie in Indien schien sich die Lage in Nepal nach der ersten Welle zu beruhigen. Am 21. Februar wurden nur noch 571 Fälle verzeichnet – dann nahmen die Fälle wieder stetig zu. Mitte April schossen sie schliesslich explosionsartig in die Höhe. Gestern wurden 8970 Fälle verzeichnet, die Positivitätsrate betrug über die letzten Tage hinweg über 40 Prozent.
Ein Blick auf die folgende Grafik zeigt, dass die zweite Welle in Nepal vier Wochen nach Indien zu steigen begann:
Eine Rolle bei dieser Entwicklung dürften nepalesische Gastarbeiter gespielt haben. Diverse Städte Indiens verhängten Mitte April einen strengen Lockdown, was in der Schliessung ganzer Industrien und Fabriken resultierte. Infolgedessen verloren sowohl indische wie auch nepalesische Wanderarbeiter ihre Jobs und kehrten nach Hause zurück – meist in überfüllten Zügen und Bussen.
Doch auch schon im März seien über 30'000 nepalesische Wanderarbeiter in ihre Heimat zurückgekehrt, berichtet die nepalesische Zeitung The Himalayan. Die Zahlen beziehen sich dabei alleine auf einen Grenzübergang – Gauriphanta.
Wie Ganesh Saud, Leiter des Gesundheitsdienstes am Grenzübergang, gegenüber «The Himalayan» sagt, seien davon lediglich 8856 Personen per Antigen-Test getestet worden. Grund dafür seien fehlende Tests, welche an den Grenzübergängen nötig wären, schreibt die Zeitung weiter.
Am stärksten von der Pandemie betroffen ist nebst Kathmandu auch die Stadt Nepalgunj. Eine Stadt unmittelbar an der Grenze zum indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Auch sie erfuhr die plötzliche Rückkehr tausender nepalesischer Arbeiter, bevor die Grenzen geschlossen wurden.
«Das Gesundheitssystem ist angesichts der Infektionszahlen überfordert. Wir sind bereits nicht mehr in der Lage, Krankenhausbetten zur Verfügung zu stellen», zitiert The Kathmandu Post das Gesundheitsministerium Nepals am 30. April. Vielerorts werden nur noch Patienten und Patientinnen mit einer sehr ernsten Erkrankung aufgenommen, der Rest wird wieder nach Hause geschickt.
Um die Hospitalisationen tief zu halten, werden Menschen mit milden Symptomen dazu aufgerufen, das Haus nicht zu verlassen.
Wie dem Covid-Aktionsplan der Regierung vom vergangenen Mai zu entnehmen ist, stehen im gesamten Land nur 1595 Intensivbetten zur Verfügung. Dies bei einer Bevölkerung von über 28 Millionen. Mit einer mehr als dreimal kleineren Bevölkerung verfügt die Schweiz über 908 Intensivbetten.
Am 21. Januar hat Nepal mit der Impfkampagne begonnen und bis zum 28. April 2'091'511 Dosen verimpft. Gemäss Reuters entspricht dies 3,7 Prozent der Bevölkerung.
Die Impfkampagne startete, nachdem eine Million AstraZeneca-Dosen von Indien eingetroffen waren. Im Rahmen der Covax-Initiative erhielt Nepal im März weitere 348'000 Dosen, während Indien den Umfang der zweiten versprochenen Lieferung halbierte – angesichts der rasant steigenden Zahlen hielten sie die Impfdosen für sich selbst zurück. Dies führte Mitte März zu einem Impfstopp und damit zu einem Problem: Von den 1,7 Millionen Menschen, die eine erste Dosis erhalten haben, bekamen nur 380'000 die zweite Spritze.
Erst mit einer Spende von 800'000 Impfdosen durch China konnte die Impfkampagne Anfang April fortgesetzt werden. Die Impfzentren wurden förmlich überrannt und nepalesische Beamte befürchteten, dass sich das Virus in den wartenden Mengen weiterverbreitet. Jhalak Sharma Gautam, Leiter des nationalen Impfprogramms, erklärte gegenüber der New York Times, dass man trotz überfüllten Impfzentren weiter geimpft habe. «Aber wir hörten auf, nachdem die Regierung den Lockdown verordnet hatte.»
Die Regierung verordnete in diversen Bezirken einen Lockdown, der in einer ersten Phase vom 29. April bis zum 5. Mai andauerte. Gestern kündigte die Regierung an, diesen um eine weitere Woche zu verlängern. Von 77 Bezirken befinden sich 42 im Lockdown.
Des Weiteren wurden vorerst alle internationalen Flüge (mit Ausnahme von einigen Verbindungen zwischen Nepal und Indien) sowie Inland-Flüge gestoppt. Ein Blick auf die Karte verdeutlicht, wieso das problematisch sein könnte:
Bisher hat Nepal die meisten medizinischen Güter über den Landweg von Indien bezogen. Aufgrund der dort prekären Corona-Situation benötigen sie dieses Material nun aber selbst. Derweil ist das im Norden liegende Nachbarland China aufgrund des Gebirges unmöglich über den Landweg zu erreichen.
Nripenda Khatri, Mitarbeiter der Catholic Relief Services, erklärt gegenüber dem Guardian wieso das besonders schlimm ist:
Viele Orte seien nur über unbefestigte Strassen und zu Fuss erreichbar, erläutert Khatri weiter. Abgelegene Dörfer mit Hilfsgütern zu versorgen, werde ein gewaltiges Unterfangen sein.
In den nepalesischen Medien wird das schlechte Management an der nepalesisch-indischen Grenze für den Fallzahlen-Anstieg verantwortlich gemacht. Vor diesem Hintergrund geriet vor allem Premierminister Khadga Prasad Sharma Oli in Kritik. Er habe keine echten Anstrengungen unternommen, um die Pandemie unter Kontrolle zu kriegen, schreibt The Kathmandu Post.
Anfang April empfahl er seiner Bevölkerung noch mit Guave-Blättern zu gurgeln, um damit das Coronavirus zu bekämpfen. Auch das Trinken von Kurkuma-Wasser könne helfen, so der Premierminister.
Auch der ehemalige König Gyanendra Shah und seine Gattin Komal Shah schienen das Virus zu unterschätzen, als sie für das religiöse Fest Kumbh Mela nach Indien reisten.
Nach ihrer Rückkehr wurden sie positiv getestet und mussten in das Spital eingeliefert werden.
Doch nicht nur in Indien, sondern auch in Nepal fanden diverse religiöse Feste statt. Trotz Empfehlungen der Regierung, sich von Menschenmassen fernzuhalten, fanden sich tausende Nepalesinnen und Nepalesen bei diversen Festlichkeiten zusammen. Erst am 29. April verordnete die Regierung den Lockdown und schob damit allen Festlichkeiten den Riegel.
Angesichts der prekären Situation in den Spitälern und der Impfstoffknappheit wandte sich der Premierminister KP Sharma Oli nun an die internationale Gemeinschaft. Am Montag bat er in einer Fernsehansprache um Hilfe:
Sein Hilferuf deckt sich mit der Mitteilung des Gesundheitsministeriums: Die Corona-Situation ist ausser Kontrolle geraten.