Am 11. August verkündete der russische Präsident Wladimir Putin erstaunliche Neuigkeiten: Der weltweit erste Impfstoff gegen SARS-CoV-2 – der symbolträchtig unter dem Namen «Sputnik V» vertrieben werden soll – sei zugelassen worden; eine seiner Töchter habe sich bereits damit impfen lassen. Die Erfolgsmeldung aus Moskau stiess im Westen allerdings kaum auf Begeisterung – hier bemängelte man die überhastete Genehmigung eines Impfstoffs, der offenbar kaum in klinischen Studien erprobt worden war.
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Tatsächlich hat die dritte Testphase für den unter der Bezeichnung Gam-COVID-Vac Lyo entwickelten Wirkstoff erst Anfang September begonnen, also erst nach der Zulassung. Dies widerspricht dem international üblichen Vorgehen und den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Die Studie, in der die Wissenschaftler vom staatlichen Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau ihre Ergebnisse präsentierten, war mit nur gerade 76 Testpersonen durchgeführt worden. Sie wurde am 4. September im Fachmagazin «The Lancet» veröffentlicht.
Diese Studie zieht nun massive Kritik von Fachleuten auf sich. Der Vorwurf ist schwerwiegend: Die Daten, die von den russischen Forschenden in der Studie vorgelegt wurden, könnten manipuliert sein. Diesen Verdacht hat eine Gruppe von renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Leitung des Molekularbiologen Enrico Bucci von der American Temple University in einem offenen Brief an «The Lancet» vorgebracht.
Diese «Note of Concern» veröffentlichten sie auf der italienischen Website «Cattivi Scienziati», die sich der Entlarvung von pseudowissenschaftlichen Publikationen verschrieben hat. Inzwischen haben weitere Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern den Brief unterschrieben. Sie fordern von den russischen Kolleginnen und Kollegen die Veröffentlichung der Rohdaten der Studie.
Bucci erklärte gegenüber der «Moscow Times», es gebe Auffälligkeiten – unerklärliche Überschneidungen – in den Daten der Studie. «Es gibt sehr merkwürdige Muster in den Daten», stellte Bucci fest. «Mit seltsamen Mustern meine ich, dass es doppelte Werte für verschiedene (Gruppen von) Patienten gibt (...), was nicht sein kann.»
Die doppelten Werte, die Bucci erwähnt, traten in den Resultaten auf, die sich bei der Produktion von Antikörpern durch Patientengruppen ergaben, die unterschiedliche Varianten des Impfstoffs erhalten hatten. Das Gamaleja-Institut hatte insgesamt sechs verschiedene Formen des Impfstoffs an vier Gruppen zu je neun Probanden und zwei Gruppen zu je 20 Probanden getestet.
So hatten neun von neun Testpersonen, die die Wirkstoff-Variante rAd26-S erhalten hatten, an Tag 21 und Tag 28 denselben Antikörperspiegel – das zeigen die rot umrandeten Kästchen in der Abbildung oben. Dasselbe gilt für 7 der 9 Probanden, die die Variante rAd5-S erhielten (gelbe Kästchen).
Solche Duplikate fänden sich in den Forschungsergebnissen zu anderen derzeit getesteten Impfstoffen nicht, sagte Bucci. «Es ist, als ob man würfelt und mehrmals genau die gleiche Zahlenfolge sieht – das ist höchst unwahrscheinlich», erklärte er. Es muss sich freilich nicht unbedingt um eine Manipulation handeln – Bucci räumte ein, dass es sich auch um einen Fehler handeln könne: «Es könnte ein Fehler vorliegen, es könnte eine Erklärung dafür geben, es könnte Betrug sein. Wir wissen es nicht.»
Der Immunologe Andrea Cossarizza von der Universität Modena, der den Brief ebenfalls unterzeichnet hat, findet sogar, die Diagramme mit den Daten in der Studie sähen aus, als seien sie mit Photoshop bearbeitet worden. «Sie sind zu ähnlich und aus statistischer Sicht zu unwahrscheinlich», sagte er der «Moscow Times».
Auch er gab zu bedenken, dass es sich um einen Fehler handeln könnte. In zahlreichen anderen Fällen, in denen es in einem wissenschaftlichen Artikel einen Fehler solchen Ausmasses gab, sei freilich Manipulation im Spiel gewesen.
Selbst in Russland ist mittlerweile Kritik an der Studie laut geworden. Der russische Zellbiologe Viktor Tatarskij stellte auf Facebook fest, die Daten für bestimmte Kontrollgruppen sähen zu ähnlich aus; es sei sehr wahrscheinlich, dass solche Daten nicht zufällig entstanden seien. Da die Studie aber nur eine geringe Teilnehmerzahl aufweise, könne dies allerdings auch nicht vollständig ausgeschlossen werden.
Das Fachmagazin «The Lancet» ist um Aufklärung der Angelegenheit bemüht – ein Sprecher teilte mit, man habe den Brief der kritischen Wissenschaftler direkt an die Studienautorinnen und -autoren weitergegeben und sie dazu ermuntert, sich an der Diskussion zu beteiligen und offene Frage zu klären. Auf Anfrage des «Spiegels» teilte das Magazin mit: «Wir verfolgen die Situation genau.» Die russische Studie sei vor Publikation von internationalen Experten begutachtet worden.
Das Moskauer Forschungsinstitut Gamaleja und auch der russische Staatsfonds Foreign Direct Investment Fund (RDIF), der die Entwicklung und Produktion des Vakzins finanziert, versicherten, die Daten seien nicht manipuliert worden. Der Staatsfonds hofft nach Angaben des «Handelsblatts», bis zu einem Drittel des Marktes für einen funktionierenden Corona-Impfstoff zu erobern. Dessen Volumen wird auf weltweit 75 Milliarden Dollar geschätzt. Trotz der Bedenken aufgrund der hastigen Entwicklung haben bisher mehr als 20 Länder insgesamt über eine Milliarde Dosen des «Sputnik-V»-Impfstoffs beantragt.
(dhr)
Mich wundert es aber, dass es noch keinen Run auf diese Impfung gegeben hat. Echinacea ist dann doch sicherer 😉
Korrekterweise müsste man nun statistisch testen, wie wahrscheinlich es ist, dass auf 3 diskrete Werte 5 Punkte mit dem gleichen Muster zu liegen kommen.
Wäre übrigens interessant die Daten auf das Benfordsches Gesetz zu prüfen. Wenn man damit Steuerbetrug aufdecken kann, könnte man doch auch den hiesigen Fälschungsverdacht aufklären.