Wikipedia wird 20. Das ist natürlich nicht nur für Millionen Schülerinnen und Schüler Grund zum Feiern. Dieser Beitrag dreht sich um kaum bekannte Fakten und die verrückte Entstehungsgeschichte der Online-Enzyklopädie. Als Quelle diente – selbstverständlich – Wikipedia, aber auch das 2020 erschienene Sachbuch des Insiders Pavel Richter.
Jimmy Wales. Ohne ihn gäbe es Wikipedia nicht in der heutigen Form. Als junger Mann verdiente er mit Finanzgeschäften viel Geld, dann zog es ihn ins Silicon Valley, wo er 1996 «irgendetwas mit dem Internet» machen wollte.
Zunächst versuchte Wales, ein Online-Portal aufzuziehen für die Stadt Chicago, wo er als Trader gearbeitet hatte. Dann experimentierte er mit thematisch vernetzten Webseiten, quasi einem Pendant zu Yahoo und anderen Web-Katalogen. Zur Erinnerung: Damals gab es Google noch nicht.
Bomis, so der Name von Wales Firma, versuchte sich als früher Betreiber von Online-Foren zu den Themen Unterhaltung, Sport, Science-Fiction, Erotik und Pornografie.
Einigermassen erfolgreich seien Wales und seine Kompagnons erst mit einer Suchmaschine namens The Babe Engine gewesen, heisst es im Buch, das der deutsche Wikipedianer Pavel Richter zum 20-Jahr-Jubiläum veröffentlicht hat.
Was Wales auf jeden Fall konnte: Er dachte gross. Ganz gross. Mit einem seiner nächsten Geschäftsvorhaben wollte er nicht weniger als «die grösste Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte» schaffen, «unübertroffen in ihrer thematischen Breite und Tiefe, frei von jeder ideologischen Verzerrung und von ungeahnter Aktualität», wie seine Firma mitteilte.
Die Idee zu Nupedia werde Wales zugerechnet, schreibt der Wikipedia-Kenner Richter. Ganz offensichtlich seien dabei unterschiedliche Aspekte zusammengekommen:
Allerdings sollte Nupedia floppen ...
Wales stellte 2000 einen Chefredaktor ein. An Larry Sanger war es, Beiträge bei Experten zu bestellen und für die Veröffentlichung auf nupedia.com zu sorgen.
Nach dem Open-Source-Prinzip sollten nicht fest angestellte Autoren Einträge schreiben, sondern vielmehr Experten einer freien Community ihren Sachverstand einbringen.
Allerdings erwies sich der siebenstufige Review-Prozess als teuer und ineffizient. So wurden bei Nupedia viel zu wenige Artikel veröffentlicht, im ersten Jahr gerade mal 21.
Der Durchbruch kam 2001, als Ben Kovitz, ein Programmierer und Anhänger der Idee von Open-Source-Software, die Nupedia-Chefs mit der Idee eines Wiki bekannt machte.
Ein Wiki erlaubt es, eine Webseite durch jedermann bearbeitbar zu machen. Ohne Kenntnisse einer Programmiersprache konnte man im Handumdrehen neue Inhalte erstellen, bestehende bearbeiten und direkt kommentieren.
Die Geburtsstunde von Wikipedia, dem wichtigsten nicht-kommerziellen Dienst in der Geschichte des Internets, wird auf den 15. Januar 2001 datiert. So wie viele andere Software-Projekte begann sie mit dem Programmier-Gruss «Hello World». Wales tippte die beiden Worte in die neue Wiki-Software ein, die einen schnellen Aufbau ermöglichen sollte.
Während die ursprünglich von Wales geplante Nupedia-Enzyklopädie sehr schnell scheiterte, entwickelte sich Wikipedia explosiv und zog eine wachsende Zahl von freiwilligen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden an. Innert Wochen waren bereits Tausende von Artikeln fertiggestellt.
2003 gründete Wales die gemeinnützige Wikimedia Foundation, die er bis Ende 2006 leitete. 2006 gab er die Leitung an die Französin Florence Nibart-Devouard ab, blieb jedoch als «Chairman Emeritus» weiter im Vorstand.
PS: Der ursprüngliche Chefredaktor, Larry Sanger, verliess Wikipedia Anfang 2003 und sagte in einem Interview, er habe die Nase voll von den «Trollen» und «anarchistischen Typen», die gegen die Idee seien, «dass jemand irgendeine Art von Autorität haben sollte, die andere nicht haben».
Die deutschsprachige Wikipedia ist weltweit die zweitgrösste. Zumindest unter den Versionen, die von Menschen geschrieben werden. Mehr Artikel haben die englische Wikipedia und zwei, die von Bots automatisch befüllt werden, nämlich die indonesische sowie die niederländische Version.
Wikimedia Deutschland war auch die erste lokale Organisation, das erste sogenannte Chapter, das es auf der Welt gab, wie Jimmy Wales im Vorwort zu «Wikipedia-Story» schreibt. In dem Buch des langjährigen Insiders Pavel Richter lobt Wales die Rolle der deutschsprachigen Community:
Vom grossen Engagement der Deutschen profitiert natürlich auch die (deutschsprachige) Schweiz. Daneben gibt es bekanntlich auch noch eine Schweizerdeutsche Wikipedia respektive Version für die Alemannischen Dialekte.
Die Wikimedia Foundation, das ist die gemeinnützige Stiftung, die Wikipedia finanziert und betreibt, ist nebenbei auch noch die Betreiberin von acht Schwesterprojekten:
Wie auch Wikipedia selbst sind diese Inhalte frei nutzbar und man sei offen für freiwillige Beiträge, heisst es.
Es sind fast ausschliesslich Männer, die Wikipedia-Beiträge verfassen und redigieren. Bei der deutschen Wikipedia sind nur gerade 10 Prozent der Autoren weiblich.
Pavel Richter, der das Buch «Die Wikipedia-Story – Biografie eines Weltwunders» geschrieben hat, meint:
Wikipedia selbst schreibt:
Oder auf gut Deutsch: Einige männliche Geschlechtsgenossen führen sich wie die Urwaldaffen auf und verschrecken mit ihrem Verhalten weibliche Freiwillige.
Die deutschsprachige Wikipedia-Community hat stark dazu beigetragen, dass sämtliche Ideen einer Kommerzialisierung der Online-Enzyklopädie verworfen wurden.
«Niemand wurde durch sie zum Milliardär, Werbung gibt es nicht», stellt Pavel Richter fest, der von 2011 bis 2014 Vorstand und Geschäftsführer der deutschen Wikimedia-Fördergesellschaft war. Zunächst sei die Wikipedia nur als ein Internetprojekt von ein paar Nerds angesehen worden. Etablierte Nachschlagewerke hätten sie zunächst ignoriert, schliesslich heftig bekämpft.
Die renommierten Lexika und Nachschlagewerke, die man aus der Offline-Welt kennt, hat Wikipedia schon vor Jahren hinter sich gelassen. Nach 244 Jahren gab der Verlag der Encyclopaedia Britannica 2012 bekannt, dass diese nur noch digital erscheint. Zwei Jahre später zog der Brockhaus nach.
Tatsächlich scheiterten auch Google und Facebook mit dem Versuch, Konkurrenzangebote aufzubauen.
Wikipedia kommt bis heute mit vergleichsweise kleinen Summen aus: Die Wikimedia Foundation, die die Online-Infrastruktur finanziert und über 100 Programmierer bezahlt, nimmt jährlich rund 120 Millionen Dollar an Spenden ein.
Wie alle Medienprojekte, an denen Menschen mitarbeiten, ist die Wikipedia nicht fehlerlos. So wurde erst nach Jahren entdeckt, dass der Rhein nicht 1320 Kilometer lang ist, wie im Artikel stand, sondern nur 1230 Kilometer. Der Zahlendreher stand zuvor aber auch in gedruckten Lexika.
Gravierender sind Fehlleistungen wie die absichtliche Fehlinformation, dass in einem deutschen Konzentrationslager in Warschau 200'000 Polen vergast worden seien.
Es gibt zwar keinen Zweifel, dass es das Konzentrationslager Warschau gegeben hat, dieses war aber kein Vernichtungslager, wie 15 Jahre lang in der englischen Wikipedia zu lesen war. «Es bleibt ein dunkler Schatten auf der Geschichte der Wikipedia, in diesem zentralen Fall über einen so langen Zeitraum versagt zu haben», schreibt Richter.
Immerhin ist der Beitrag um das Warschauer Lager auch ein Beweis, dass bei wichtigen Wikipedia-Artikeln früher oder später die Qualitätskontrolle doch funktioniert. Wikipedia-Forscher sehen das Fehlerrisiko bei kleinen Beiträgen höher als bei grossen Themen: «Wenn ich die Wikipedia benutze, dann muss mir bewusst sein, dass die Wikipedia umso vertrauenswürdiger ist, je populärer und wichtiger ein Thema ist», sagt der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Leonhard Dobusch, der zu Wikipedia geforscht hat. Denn das bedeute, «dass mehr Menschen sich dafür interessieren, mehr Menschen diese Artikel lesen, drüberschauen oder Fehler beanstanden und korrigieren.»
Als «Schnelllöschung» wird das Löschen einer Wikipedia-Seite ohne vorangehende (siebentägige) Diskussion innerhalb der Community bezeichnet. Einen solchen Antrag können alle Wikipedia-User stellen, die beim Lesen auf eine Unregelmässigkeit stossen. Dies ist zum Beispiel sinnvoll, um rechtswidrige Inhalte (Rassismus etc.) rasch zu entfernen.
Man kann in Wikipedia aber nichts dauerhaft löschen, denn die Datenbank verfügt über einen grossen Speicher, in dem alle früheren Versionen aufbewahrt bleiben. «Das erlaubt uns, verschiedene Versionen zu vergleichen und bei Bedarf ältere Versionen wiederherzustellen», schreibt Wikipedia.
Wikipedia ist eine grosse Sammlung von einzelnen Artikeln zu unterschiedlichsten Themen, verbunden über Links.
Ein Impuls für die Zukunftsfähigkeit der Wikipedia ist aus der deutschsprachigen Community gekommen, und das ist das Projekt Wikidata – «eine maschinenlesbare Wissensdatenbank». Die Zukunft werde der künstlichen Intelligenz gehören, sagt Richter. «Darin sind sich eigentlich alle einig.»
Mit Wikidata werde eine grosse und wichtige Basis, nämlich strukturiertes maschinenlesbares Wissen, von Anfang an auf eine gemeinnützige Basis gestellt und durch die Kraft einer starken Community getragen. «Das bedeutet, dass wir als Gesellschaft nicht in die Abhängigkeit von Google, Facebook und Alibaba und anderen Internetriesen kommen.»
Dafür gibt es zum Teil Schwesterprojekte (siehe oben).
Mit Material der Nachrichtenagentur SDA
Allein das ist schon ein sehr sehr grosser Erfolg.
Danke Wiki - es lebe Open-Source...
2021: will «irgendetwas mit dem Internet» machen, wird Influencer 😅