Wenn Männer Sex wollen, sagt eine 74-Jährige, benutzen sie Ausdrücke wie «intim werden» oder «Intimität». Sie hat damit Erfahrung, denn sie ist eine von vielen, die im Dokfilm «Searchers» von Pacho Velez auf Dating-Plattformen mehr oder weniger intime Kontakte suchen. Eine Endsechzigern sagt, mit Männern gehe es ihr genau gleich wie alten Männern mit Frauen: Nur Jüngere seien attraktiv. Und wenns die nicht im Angebot habe, bleibe sie lieber zuhause und freue sich über schöne Schauspieler im Fernsehen. Eine 19- und eine 20-Jährige sind Sugar Babys und suchen nach den passenden Daddys: Nur das Geld zählt, nicht das Alter. Und Regisseur Pacho Velez checkt seine Plattformfrauen gleich mit seiner Mutter zusammen aus, denn die möchte schon, dass ihr Sohn endlich mal heiratet. Sie alle leben in New York.
Die Suche in «Searchers» ist eine Mischung aus Verspieltheit und heiterer Verzweiflung. Denn da sind nicht nur die Bedürfnisse und Neurosen der Grossstadtmenschen, die es zu befrieden und befriedigen gibt, nein, da ist auch noch die Isolations-Zentrifuge Corona. Aber die kommt in den Gesprächen nicht vor, die wird quasi weggelächelt, die sieht man nur bei den Kamerafahrten durch die Stadt – der reine Neid derer, die alleine sind, auf alle, die zu zweit sind und sich ohne Maske küssen dürfen.
«Searchers» ist in Amerika sehr beliebt, er bedient ein Bedürfnis nach Tapferkeit in der Krise, Träumen, die immer etwas grösser sind als die Realität, und der Suche nach Mr. oder Mrs. Big in New York. Und doch ist es von den coronabezogenen Dokumentarfilmen, die bis zum 25. April am Festival Visions du Réel in Nyon am Genfersee gezeigt werden, der harmloseste Film mit dem geringsten Nachhall.
«Io Resto» («My Place Is Here») von Michele Aiello beispielsweise ist eine Erschütterung von einem Film, obwohl man schon alles zum Thema Spitalsituation unter Corona zu wissen glaubt. Im März 2020 dokumentiert Aiello den Alltag eines Spitals in Brescia, also keine 50 Kilometer von Bergamo entfernt, wo die Karawanen der Leichenlaster die Welt schockieren.
Wir erleben Corona aus der Sicht des Personals, den unfassbaren Stress angesichts der Menge der Infizierten, der Sicherheitsmassnahmen, die alle zusätzlich Zeit kosten, der Triagen und vor allem angesichts der Menschlichkeit, die trotzdem noch gefordert und nötig ist. Menschlichkeit im Umgang mit den von ihren Familien abgeschnittenen meist sehr alten Menschen, aber auch im Umgang mit den Angehörigen, die am Telefon weinend zusammenbrechen, wenn der Arzt ihnen mitteilen muss, dass Morphium jetzt der einzige Weg ist, um die letzten Tage ihrer Mutter oder ihres Vaters noch einigermassen erträglich zu machen.
Die regelrechte Engelsgeduld des Personals ist bewundernswert, der Moment, in dem aus Stress Testformulare und Proben durcheinander zu geraten drohen, ist auch fürs Publikum ein Stresstest. 90 Prozent der positiv Getesteten, die eingeliefert werden, sterben, sagt eine Schwester, eine andere erzählt die Geschichte der Mutter eines erkrankten autistischen Sohnes, die auf den Schutz einer Maske verzichtete, weil ihr Kind sie sonst nicht mehr erkannte, sich selbst ansteckte und starb.
«Io Resto» will weder Kunst sein noch irgendwas zurecht stilisieren oder kommentieren, der Film stellt sich ganz in den Dienst der Sache, ist ein reines Speichermedium für ein paar Tage und ihre Geschichten in jener Hölle, die Corona vor knapp einem Jahr mitten unter uns aufriss. Ein Film, den sich ganz dringend alle anschauen sollten.
Ganz anders dagegen das hinreissende Quarantänetagebuch der chinesischen Regisseurin Weijia Ma, die nach einem Job in Frankreich nach Shanghai zurückfliegt – auch sie trägt während des Fluges wie die meisten Schutzanzug, Maske und Taucherbrille – und dort für 14 Tage in einem Hotel in Quarantäne gesteckt wird.
«My Quarantine Bear» zeigt Weijia Ma zwei Wochen lang bei der kreativen Selbstbespassung auf wenigen Quadratmetern, wie sie mit zwei Hemden eine Stop-Motion-Liebesgeschichte dreht und nach über zehn Tagen von Hotelzimmertür zu Hotelzimmertür mit einem Flur dazwischen ein Duett mit einem Quarantänenachbarn singt. Der 35-minütige Kurzfilm konzentriert sich auf das Schutzschild aus Surrealitäten, mit dem sich Weijia Ma von der Gefährlichkeit der Lage abschirmt. Im Ergebnis ist das eine total sympathische und zutiefst unsentimentale Strategie.
Denn natürlich lässt sich Corona auch sentimental einfangen, das zeigt Andrea Segre in seinem Venedig-Panorama «Molecole» («Molecules»). Wobei Venedig nichts dafür kann, denn Venedig ist einfach Venedig. Eine Stadt, die gelegentliche Leere kennt. Normalerweise wegen der Hochwasser, jetzt wegen Corona. Was die Einheimischen dem Hochwasser deutlich vorziehen, denn jetzt können die Fischer ungestört fischen und die Gondeln verlassen die Innenstadtkanäle und durchkreuzen die Lagune, in der sie normalerweise kentern würden, weil der Wellengang wegen der Kreuzfahrtschiffe und Vaporetti zu gewaltig für die schmalen Holzboote ist.
Und so erlebt man, wie die (wenigen) Einheimischen begeistert sind von ihrer Stadt, die sonst eher einem Touristen-Resort gleicht. Und wie die Leere gar nicht so leer ist und auch nicht besonders melancholisch, sondern bei aller Krise auch eine Bereicherung. Das Problem von «Molecole» ist, dass der Regisseur noch eine Geschichte mit seinem Vater drüberlegt, die aber zu keiner Auflösung gelangt, sondern in rätselhaften Andeutungen wie Nebel über den Kanälen schwebt. Aber egal, der Film porträtiert ansonsten interessante, zupackende Menschen, mit denen man auf dem nächsten Venedigtrip zu gern ein Bier trinken würde.
Gemeinsam ist den vier hier vorgeschlagenen Filmen, dass sie Corona ganz ohne Klage und Selbstmitleid begegnen und auch nicht um Betroffenheit heischen. Sie legen bloss eine Fährte durch unsere Gegenwart und unsere jüngste Geschichte. Die Welt mag äusserlich still stehen, aber die Menschen, die gezeigt werden, tun es nicht. Die leben. Unter erschwerten Umständen, doch sie tun alles, damit sie und andere überleben. Das macht Eindruck. Und Mut. Und verleiht bei allem mal absurden, mal existenziellen Irrsinn ein Gefühl von Respekt und Gelassenheit.
«Searchers» ist vom 17. bis 20. April zu sehen.
«Io Resto» vom 23. bis 26. April.
«My Quarantine Bear» vom 21. bis 24. April.
«Molecole» vom 18. bis 21. April.